Marco Scherwey ist 25 Jahte alt und bekennt: «Ich gehe gerne zur Arbeit, sie macht mir Freude. Mit meinen Kollegen fühle ich mich wohl, wir sind fast wie eine kleine Familie.» Der junge Mann hat die Praktische Ausbildung (PrA) im Bereich Logistik in der GEWA abgeschlossen. Damit war seine Ausbildung aber noch nicht zu Ende. Er hängte eine Lehre mit dem eidgenössischen Berufsattest EBA an und schloss auch diese erfolgreich ab. So ist es ihm gelungen, trotz seinen besonderen Voraussetzungen im allgemeinen Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Seit bald drei Jahren ist er in einem 80-Prozent-Pensum bei einer Logistik-Firma in Givisiez fest angestellt. «Ich mache Bestellungen parat und verpacke und lagere Gegenstände», beschreibt er seine Tätigkeit. Marco Scherwey ist stolz auf das, was er erreicht hat.
Möglich wurde dies durch die Praktische Ausbildung PrA, ein niederschwelliges Berufsbildungsangebot, das es heuer seit 15 Jahren gibt. Die zweijährige Ausbildung PrA richtet sich an junge Menschen, die keinen direkten Zugang zu den eidgenössischen beruflichen Grundbildungen haben (EBA- und EFZ-Lehre). Es sind Jugendliche, welche die obligatorische Schule abgeschlossen haben und wegen Lernschwierigkeiten keinen Ausbildungsplatz finden. Hinter der PrA steht der Branchenverband INSOS. Er erteilt den PrA-Anbietern Bildungsbewilligungen, verwaltet die Lehrverträge, ist zuständig für die nationalen Ausbildungsprogramme, Lehrmittel sowie Nachweise und Ausweise und entwickelt die PrA weiter.
Schweizweite Qualität
Die PrA wurde wegen der Einführung der beruflichen Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest EBA ins Leben gerufen. Letztere ersetzte ab 2004 schrittweise die in den meisten Berufen bis anhin üblichen kantonalen «Anlehren». Die EBA-Grundbildungen haben sich in vielen Branchen erfolgreich etabliert. Sie ermöglichen seither auch Jugendlichen mit Beeinträchtigungen die berufliche Integration und Anschlüsse in weiterführende Ausbildungen. Die Anforderungen an die EBA-Lernenden sind allerdings in vielen Branchen wesentlich höher als die ehemaligen kantonalen Anlehren, vor allem im schulischen Bereich. So schafften rund zwei Drittel der Jugendlichen mit Behinderungen, die nach altem Schema eine kantonale Anlehre gemacht hätten, den Einstieg in eine EBA-Lehre nicht.
Die Anzahl Schülerinnen und Schülern ohne Anschlusslösung nach der obligatorischen Schulzeit nahm rapide zu. Dies war die Geburtsstunde der PrA. Überzeugt davon, dass jeder Mensch berufliche Handlungskompetenzen erwerben kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und eine professionelle und individuelle Begleitung gewährleistet ist, initiierte der Branchenverband INSOS zusammen mit spezialisierten Mitgliederorganisationen 2007 die Praktische Ausbildung PrA. 2009 schlossen die ersten Absolventinnen und Absolventen die PrA gestützt auf Richtlinien ab, welche eine Pilotgruppe aus der Deutschschweiz und der Romandie entwickelt hatte. Die festgelegten minimalen Rahmenbedingungen und Qualitätsvorgaben richten sich an der EBA-Lehre aus und sorgten dafür, dass sich die individuell umsetzbare und kompetenzorientierte PrA schweizweit standardisiert hat.
Über 10’000 qualifizierte Berufspersonen
«Die PrA entwickelt sich fortlaufend weiter», sagt Annina Studer, Leiterin Arbeitswelt bei INSOS. Anfänglich waren es 60 Organisationen, heute bereits über 400 kleine bis grosse Betriebe und auch kantonsübergreifende Organisationen in der ganzen Schweiz, welche die PrA anbieten, wie Annina Studer ausführt.
Es seien mittlerweile nicht mehr ausschliesslich Betriebe von INSOS-Mitgliederorganisationen, sondern auch Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarkts, die PrA-Lernende ausbilden. Auch immer mehr kantonale Berufsschulen nehmen PrA-Lernende auf. Jugendlichen wie Marco Scherwey gelingt dank mehr Zeit und mehr individueller Betreuung der Einstieg in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Marco Scherwey sagt dazu: «In der PrA habe ich die verschiedenen Schritte der Logistik gelernt, also wie alles abläuft. In der EBA konnte ich das vertiefen und meine Kenntnisse erweitern. An meiner jetzigen Arbeitsstelle kann ich das, was ich gelernt habe, anwenden.»
«Den Erfolg der PrA belegen die rund zwei Drittel der PrA-Absolvierenden, die entweder eine Anstellung im allgemeinen Arbeitsmarkt finden oder in eine EBA-Lehre wechseln.»
Annina Studer
Mittlerweile sind rund 1084 Lernende im ersten PrA-Lehrjahr und fast so viele im zweiten Lehrjahr – vor 15 Jahren schlossen im Vergleich dazu 327 Personen die Ausbildung ab. «Insgesamt wurden bis jetzt 10 000 PrA-Berufsleute qualifiziert», freut sich Annina Studer. «Es gibt laufend aktualisierte Lehrmittel, standardisierte Ausbildungsprogramme sowie PrA-Berufsschulen und kantonale Berufsschulen, die PrA-Lernende aufnehmen», führt sie weiter aus. Dies zeigt, dass die PrA funktioniert, davon zeugt auch die hohe Nachfrage seitens Auszubildender wie Arbeitgebender.
Vorteile für Betriebe
INSOS koordiniert über 100 Berufe, verwaltet die Lehrverträge und überprüft die PrA-Betriebe. Annina Studer betont jedoch, dass die Praktische Ausbildung nicht von oben diktiert sei, sondern aus der PrA-Community für die PrA-Community entwickelt wird. Das Wissen und die Unterlagen werden in der Community geteilt. Dadurch entstehe eine Dynamik, die sich positiv auf die Chancen der Jugendlichen auswirkt.
Die PrA entspricht laut Studer auch dem Wunsch der Arbeitgebenden, dem Wildwuchs in niederschwelligen, nicht-formalen Bildungsangeboten entgegenzutreten. Das Interesse an einer einheitlichen und unkomplizierten Regelung für Jugendliche ohne Zugang zu beruflichen Grundbildungen ist entsprechend gross. «Die PrA schliesst insofern eine Lücke im Berufsbildungssystem», sagt Studer. Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarkts profitieren davon, wenn sie PrA-Lernende ausbilden oder wenn sie Absolventinnen und Absolventen anstellen: Die INSOS-Mitgliederorganisationen sorgen für den nötigen Support während der Rekrutierung, Ausbildung und bei der Anstellung. Die Auszubildenden sind häufig sehr motiviert, einen Beruf zu lernen und eine Anstellung zu erreichen. Entsprechend hoch ist auch die Loyalität gegenüber den Betrieben. PrA-Diplomierte können Fachkräfte in Zeiten des Fachkräftemangels auch entlasten. Ein Betrieb kann zudem mit PrA-Ausbildungsplätzen seine soziale Verantwortung zeigen und vorleben. Denn: «Berufsbildung auf Stufe PrA ist Beziehungsarbeit auf höchstem Niveau», so Annina Studer.
Die Realität des Arbeitsmarkts
Den Erfolg der PrA belegen die rund zwei Drittel der PrA-Absolvierenden, die entweder eine Anstellung im allgemeinen Arbeitsmarkt finden oder in eine EBA-Lehre wechseln. Ein Drittel findet eine Stelle im angelernten Beruf im ergänzenden Arbeitsmarkt. Besonders beliebt sind laut Annina Studer die PrA-Ausbildungen Hauswirtschaft, Küche, Logistik, Betriebsunterhalt, Gärtnerei und Detailhandel. «Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt bestimmen die Wahl des Berufs mit. Gerade auch bei Jugendlichen mit Einschränkungen zerbrechen Berufsträume manchmal an der Realität des Arbeitsmarkts», gibt Studer zu bedenken. Die Vielfalt der verschiedenen Berufe ist gross, es gibt darunter auch «exotischere» wie die PrA Schauspielerei oder die PrA Industrie, bei denen es ebenfalls reale Anschlussmöglichkeiten in der Praxis gibt, wie Studer sagt.
«Niemand konnte ahnen, dass die PrA sich so stark verbreiten und etablieren würde.»
Annina Studer
Der Erfolg und die grosse Nachfrage nach PrA-Ausbildungen mit einer stetig wachsenden Zahl an Absolventinnen und Absolventen waren nicht vorhersehbar. «Niemand konnte ahnen, dass die PrA sich so stark verbreiten und etablieren würde», erläutert Annina Studer, «ursprünglich war die PrA als befristete Zwischenlösung gedacht in der Annahme, dass das schweizerische Berufsbildungssystem mittelfristig inklusiver wird.» Nun ist die PrA selbst inklusiver Baustein des Berufsbildungssystems geworden. Die grosse Nachfrage bringe neue Herausforderungen – etwa hohe Erwartungen seitens neuer PrA-Akteure gegenüber INSOS, die den Community-basierten Ansatz innerhalb des Branchenverbands nicht kennen. Wer zu den PrA-Dienstleistern gehört, ist gleichzeitig Teil der PrA-Förderorganisationen und setzt sich für die PrA-Qualität und -weiterentwicklung ein. Dies traf lange zu, ist aber laut Studer heute nicht mehr überall so. Mit dem neuen Invaliditätsgesetz und der UN-Behindertenrechtskonvention kommen immer mehr Akteure mit noch wenig Erfahrung hinzu. «Dies fordert uns heraus, die Qualität der PrA zu gewährleisten», so Studer.
Auch der Wandel des Arbeitsmarkts beeinflusst die PrA: In einigen Branchen wird die PrA an Bedeutung verlieren, während sich in anderen Branchen neue PrA-Berufe entwickeln. Die Chancen und Grenzen der PrA im Kontext der aktuellen Entwicklungen waren denn auch Thema der nationalen Fachtagung zum 15-Jahr-Jubiläum. An dieser INSOS-Tagung diskutierten die verschiedenen Akteure mit Expertinnen und Experten die Zukunft der Praktischen Ausbildung. Für Annina Studer und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter ist klar: «Die PrA ist ein Innovationsbooster und vereinigt schweizweit Betriebe, Organisationen, Berufsschulen und ihre Fachpersonen. Gemeinsam, engagiert und kreativ ziehen alle an einem Strick und tragen täglich dazu bei, dass Jugendliche mit Beeinträchtigungen über die PrA erfolgreich in ihre berufliche Laufbahn einsteigen.» So kann sich das Potenzial der jungen Menschen entfalten – ein Gewinn für alle.
Foto: Matthias Luggen