24. November 2021
Esther Wyler
Es bleibt nur noch wenig Zeit
Der Klimawandel betrifft nicht nur die Eisbären in der Arktis. Er ist längst auch in den reichen westlichen Staaten angekommen. Für den Historiker und Bestsellerautor Philipp Blom ist klar: Wir müssen uns neu orientieren und eine andere Wirtschaft aufbauen. Nur so hat unsere Zivilisation eine Überlebenschance. Wir brauchen ein neues Lebensmodell für die Zukunft. Wir müssen den Mut haben, uns neu zu erfinden.
Herr Blom, in Ihren Büchern «Das grosse Welttheater» und «Was auf dem Spiel steht» beschäftigen Sie sich u.a. sehr intensiv mit den Folgen des Klimawandels für Umwelt, Tiere und den Menschen. Ihre Prognose für die Zukunft ist eher düster. Sie geben sich zwar Mühe, auch die ermutigenden und positiven Aspekte herauszustellen, aber es fällt Ihnen schwer, oder?
Ja, das stimmt. Aber wissen Sie, solange etwas noch nicht passiert ist, ist es noch nicht passiert. Unser Verständnis von den Dingen ist immer modellhaft und wir verstehen die Mechanismen noch nicht wirklich. Wir können nicht sagen, was die Zukunft uns wirklich bringt. Aber wir sollten mit dem besten Wissen handeln, welches wir haben. Und das sagt uns, dass nur noch wenig Zeit bleibt, um eine wirklich existenzbedrohende Katastrophe zu verhindern und uns mit einer mittleren Katastrophe zu arrangieren.
Sie schreiben in «Was auf dem Spiel steht»: «Menschen sind Primaten, die sich Geschichten über sich selbst erzählen.» Welche Geschichten erzählen wir uns heute? Wie sehen wir uns selbst in der Welt?
Wir stehen heute am Ende einer Zeitperiode, die mit dem Satz «Der Mensch ist das Mass aller Dinge» umschrieben werden könnte. In seinem Selbstverständnis sieht sich der Mensch als Zentrum und Mittelpunkt der weltlichen Realität. Er nimmt für sich eine Sonderstellung in Anspruch, die ihn berechtigt, alles seinen Interessen unterzuordnen. Dieses Bild hat unsere ganze Zivilisation und Kultur geprägt und lebt bis heute in der Idee des ewigen technologischen Fortschritts und Wirtschaftswachstums weiter. Das hat ja auch lange gut funktioniert. Wir sind heute reicher, als wir es je gewesen sind, und leben länger als je zuvor.
Aber?
Wenn unsere Lebensweise und unser System davon abhängig sind, dass pro Minute 30 Fussballfelder an Regenwald vernichtet werden, dann hat dieses Modell keine Zukunft. Jetzt in Zeiten der Krise brauchen wir eine neue Erzählung, die sich von der Vormachtstellung des Menschen in der Natur verabschiedet. Homo sapiens ist nicht allein, er ist nicht einmal so unterschiedlich vom Rest der Natur, wie er gerne glauben würde und immer wieder konstruiert, im Gegenteil: Er ist mittendrin in dieser Natur, lediglich ein Organismus unter vielen auf dieser Erde und für das Gleichgewicht der Natur längst nicht so wichtig wie Plankton oder Ameisen. Das zu akzeptieren ist für uns Menschen nicht einfach und oft auch eine Überforderung.
Sie betrachten unser heutiges Wirtschaftssystem als Auslaufmodell. Weshalb?
Das gegenwärtige System ist eine Art von Hyperkapitalismus und Marktabsolutismus, welches die Gesellschaft zu einem Anhängsel des Marktes degradiert. Das hat dazu geführt, dass auch die Politik nicht mehr sehr handlungsfähig ist und letztendlich grosse multinationale Konzerne mehr Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum haben als Staaten. Und vor allem unterliegt unsere Wirtschaft einem ständigen Wachstumszwang. Laufend müssen neue Bedürfnisse geweckt werden, um den Konsum und das Wachstum anzukurbeln. Das geht einher mit einem verheerenden Ressourcenverbrauch und grosser Umweltzerstörung. Wir ersticken sozusagen an den Nebenwirkungen unseres eigenen Erfolges.
Weshalb dieser Wachstumszwang?
Das ist ganz einfach zu erklären. Kapitalismus heisst Kapitalismus, weil er mit Kapital umgeht. Und dieses Kapital wird nicht nur geschaffen, sondern es wir vor allen Dingen auch verliehen, an Unternehmen, den Staat oder private Haushalte. Wer Geld leiht, will damit auch etwas verdienen. Investitionen sollen sich lohnen. Aktionäre wollen für ihre Geldanlage Dividenden, Banken wollen für ihre Kredite Zinsen. Ein Geldnehmer nimmt 100 und muss 102 zurückzahlen. Deshalb muss man dieses Geld wachsen lassen. Hohe private und staatliche Schulden verursachen den Druck, dass die Wirtschaft immer weiterwachsen muss.
Sehen Sie einen Ausweg?
Ich bin Historiker und kein Ökonom. Ich glaube jedoch, dass wir ein gewisses Minimum an Wachstum brauchen, damit unser Wirtschaftssystem funktioniert. Die Transition zu einer nachhaltigen und klimafreundlichen Wirtschaft kostet Geld und muss von irgendwem finanziert werden. Auch die Institutionen einer Demokratie sind sehr teuer. Es ist jedoch nötig, dass wir uns Gedanken darüber machen, welche Unternehmensformen eher ein nachhaltiges Wirtschaften ermöglichen. Aktiengesellschaften sind Wachstumstreiber. Eine Alternative wären Genossenschaften oder Stiftungen. Sie unterliegen weniger dem Wachstumszwang, sind nicht primär gewinnorientiert und verfolgen auch ideelle oder gemeinnützige Zwecke.
Heisst weniger wachsen auch weniger konsumieren?
Ja, das heisst es. Wenn wir den grünen Umbau der Wirtschaft wollen, dann müssen wir unseren Verbrauch einschränken. Das ist nicht einfach, denn wir definieren uns sehr stark über unseren Konsum. Gerade Markenartikel sind ein sehr starkes Identitätsangebot seitens der Wirtschaft. Wer will ich sein? Was will ich darstellen? Von wem möchte ich mich abgrenzen? Marken versprechen den Konsumenten Zugehörigkeit und Anerkennung, Luxus und Glück. Sie geben auch Orientierung in Zeiten des Überangebots und der Orientierungslosigkeit. Wollen wir eine Gesellschaft, in der weniger konsumiert wird, dann müssen wir unsere Identität anders konstruieren. Wir müssen uns neu erfinden.