07. Juni 2023
Esther Wyler
«Glaube gibt Orientierung»
Welche Rolle spielen Religiosität und Spiritualität in der heutigen Gesellschaft? Wenn die Kirchenmitglieder oder Gottesdienstbesuche abnehmen, verschwindet dann auch die Religion? «Nein», sagt die Theologin Isabelle Noth: «Die Erscheinungsformen des Religiösen verändern sich nur, hin zu einer stärkeren Individualisierung und Pluralisierung».
Frau Noth, Sie sind Theologin und Religionspsychologin. Zuerst die Frage: Was ist Theologie eigentlich?
Christliche Theologie ist die wissenschaftliche Reflexion des christlichen Glaubens. Sie beschäftigt sich aus einer Innenperspektive mit ihrem Forschungsgegenstand. Sie untersucht Fragen wie: In welchem Licht interpretieren wir biblische Texte? Wie stellen wir uns Gott vor? Was wollte Jesus? Wie definieren wir Glaube? Wieso feiern wir Gottesdienste? Was ist Seelsorge? Darauf versucht Theologie Antworten zu finden und Rechenschaft abzulegen. Theologie stellt keine simplen Behauptungen auf, sondern versucht gute Gründe zu liefern, warum es vernünftig ist, von der Existenz Gottes und der Stimmigkeit des christlichen Glaubens auszugehen und von ihm her Orientierung zu gewinnen.
Und wie würden Sie Religionspsychologie beschreiben?
Religionspsychologie nimmt eine Aussenperspektive ein und versucht möglichst wertneutral das religiöse Erleben und Verhalten von Menschen zu untersuchen. In der Religionspsychologie geht es nicht darum, die Wahrheit oder Richtigkeit bestimmter religiöser Überzeugungen zu bewerten, sondern vielmehr die psychologischen Aspekte von Religion und Spiritualität zu erforschen und zu verstehen. Was macht Religion mit den Menschen und was machen die Menschen mit der Religion. Religionspsychologie ist ein interdisziplinäres Fachgebiet, welches an der Schnittstelle primär zwischen Psychologie, Religionswissenschaft und Theologie einzuordnen ist.
Mit welchen Fragen beschäftigen Sie sich als Religionspsychologin?
Wichtige Fragen sind etwa: Wie entsteht religiöser Extremismus? Welche psychologischen Faktoren spielen bei der Radikalisierung eine Rolle? Wie beeinflusst Religion die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden? Welche Rolle spielt Religion bei der Bewältigung von Stress, Traumen oder Krankheit? Wie entstehen religiöse Überzeugungen bei Menschen? Welche psychologischen und sozialen Faktoren beeinflussen die Entwicklung von Glaubenssystemen? Weshalb sind religiöse Gruppen manchmal Zielscheiben von Vorurteilen und Diskriminierung? Aber auch: Inwieweit macht der Wahrheitsanspruch von Religionen religiöse Menschen für Vorurteile anfälliger? Das sind nur einige Beispiele.
Wie entsteht religiöser Glaube?
Die Entstehung von religiösem Glauben ist ein individueller und subjektiver Prozess. Ein wichtiger Faktor dabei sind soziale Einflüsse. Der Glaube an eine bestimmte Religion wird oft von den Eltern, der Familie und der sozialen Umgebung geprägt. Kinder müssen sich mit Religion auseinandersetzen können und die Geschichten der Bibel kennenlernen dürfen. So können sie eigene Erfahrungen in ihrem Glaubensleben machen und sich damit intensiv auseinandersetzen. Auch die Suche nach Sinn und Identität kann die Entstehung von Glauben begünstigen. Glaube kann eine Antwort auf grundlegende Fragen nach dem Sinn des Lebens, der menschlichen Existenz und dem eigenen Selbstverständnis bieten. Religion kann Menschen helfen, Bedeutung und Orientierung in ihrem Leben zu finden und ihre Identität zu formen.
Was ist der Unterschied zwischen Glauben und Spiritualität?
Ich mache es gerne einfach und fasse Studien zu dieser Frage so zusammen: Wenn Menschen von Glauben sprechen, dann verbinden sie das häufig mit Institution, mit Dogmen, mit Glaubenssätzen und Kirchen. Spiritualität hingegen verbinden sie gerne mit Geist, Natur, Meditation und mit Freiheit. Soweit ganz grob, was unter diesen zwei Begriffen verstanden wird. Als Wissenschaftlerin sage ich jedoch, dass Spiritualität immer schon auch ein Bestandteil von Religion war. Religion hat zu tun mit etwas Transzendentem, mit etwas, das unsere Welt übersteigt, mit Gott oder Göttern, mit Wesenheiten, die unverfügbar sind, mit denen wir aber einen Austausch pflegen können z.B. durch das Gebet oder die Meditation.
Wenn ich jemanden als religiös beschreibe, was meine ich damit?
Es kommt darauf an, welche Kriterien man für Religiosität verwendet. Wie misst man Religiosität? Gerne wird dies am Besuch des Sonntagsgottesdienstes festgemacht, aber da hätten wir fast keine religiösen Menschen mehr. Viele Menschen fühlen sich zur Kirche bzw. zu dem, was sie vermitteln möchte, irgendwie zugehörig, auch wenn sie nie oder selten in die Kirche als Gebäude selber gehen. Glaube, Religion und Religiosität manifestieren sich heute nicht primär im Gottesdient. Es gibt eine Vielfalt von Möglichkeiten, Religiosität zu leben, auch ausserhalb der Kirchenmauern.
Was macht gläubige Menschen aus?
Religiosität und Glaube haben primär mit einer inneren Haltung bzw. Einstellung zu tun. Sie sind Ausdruck tiefer Überzeugungen, Werte und Verstehensweisen einer Person. Wenn wir jetzt vom christlichen Glauben sprechen, dann sind zentrale Inhalte die Gottesbeziehung und die Bindung an Jesus Christus. Was hat er gepredigt? Wie sah er den Menschen und wie begegnete ihm Gott? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist eine Form von gelebtem Glauben und Religiosität.