loading

«Ich muss meine Balance finden»

Die 34-jährige Stephanie Wenger lebt seit vielen Jahren mit der Diagnose Borderline. Oft gleicht der Alltag einer emotionalen Achterbahn. Gefühle können schnell wechseln, von einem Hoch ins nächste Tief und oft weiss sie nicht einmal wieso. Stephanie musste viele schmerzhafte Lebensereignisse verarbeiten und hat darüber ein Buch mit dem Titel «Mittelweg» geschrieben. In Interview sagt sie: «Ich habe trotzdem ein gutes Leben».

Steffi Musigfuerdi 291121 cramarts 33

Stephanie, wie würdest du das Krankheitsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung beschreiben?

Auf jeden Fall nicht als Monster, wie viele immer meinen. Wir sind Gefühlsmenschen. Ich empfinde einfach alles sehr intensiv. Meistens reicht ein kleiner Auslöser, um mein emotionales Gleichgewicht ausser Kontrolle zu bringen. Starke Gefühle, von Freude über Wut bis hin zu Verzweiflung können oft schlagartig einsetzen, wechseln aber auch schnell wieder. Deshalb reagiere und handle ich oft sehr impulsiv, was mein Umfeld erschrecken kann. Ich muss meine Balance finden, deshalb heisst mein Buch ja auch Mittelweg.

Wie hat sich diese psychische Herausforderung entwickelt?

Als Kind hatte ich noch nicht das Gefühl, dass ich irgendwie nicht «normal» sein könnte. Erste Anzeichen gab es so ab der sechsten Klasse. Damals habe ich angefangen, mich selbst zu verletzen. Oft ging ich dafür auf die Toilette, um mir mit der Schere Schnittverletzungen zuzufügen.

Weshalb?

Ich hatte einfach das Gefühl, es sonst nicht auszuhalten. Das selbstverletzende Verhalten verschaffte mir Erleichterung, hat mich beruhigt. Damit konnte ich meine intensiven Gefühle wieder in den Griff bekommen. Und gleichzeitig war es ein Hilferuf, ich habe unbewusst nach Aufmerksamkeit gesucht. An sich war es paradox: ich hatte viele Kontakte, war in der Schule sehr beliebt und habe keinerlei Mobbing erlebt. Gegen aussen war ich immer gut drauf. Aber innerlich war da diese Leere.

Weisst du, woher das kommt?

Mittlerweile weiss ich mehr über diese Krankheit. Es gibt verschiedene Faktoren, die Borderline begünstigen. Da ist einmal eine genetische Veranlagung. Auch meine Grossmutter mütterlicherseits hatte psychische Schwierigkeiten. Zudem war ich bei der Geburt sofort von meiner Mutter getrennt. Mir fehlen die ersten Stunden, dieses Urvertrauen. Ich hätte im Kindesalter mehr Zuwendung gebraucht. Und mit 14 Jahren kam noch ein sexueller Missbrauch dazu. Diese Ereignisse sind für mich Erklärungsansätze.

Hat damals niemand deine psychische Not erkannt?

Es hat gedauert. Ich mag mich nicht erinnern, dass mich meine Lehrer:innen oder sonst wer darauf angesprochen hätten. In der siebten Klasse haute ich von der Schule ab. Danach brachte man mich zum Schulpsychologen. An der Wandtafel stand einmal, «Steffi, die Ritzerin». Aber wirklich etwas passiert ist in der Schule nichts. Als ich mich dann auch zu Hause verletzte, haben meine Eltern reagiert und mich zur zum Jugendpsychiater geschickt.

Wie hat Borderline deine berufliche Situation beeinflusst?

Nach einem 10. Schuljahr machte ich den Vorkurs Pflege und anschliessend zweieinhalb Jahre die Ausbildung zur Pflegefachfrau. Leider begann ich dann mit dem Drogenkonsum an. Meine Drogenzeit war kurz, aber heftig. Ich nahm Kokain und wurde sehr schnell süchtig. Sobald die Wirkung nachliess, stürzte ich in eine Depression. Ich trank Unmengen an Alkohol, sodass ich schlussendlich ins Spital und später in die psychiatrische Universitätsklinik Waldau eingewiesen wurde. Damals war ich 20 Jahre alt und die Klinikeinweisung ein Schock. Seitdem kamen viele weitere Klinikaufenthalte dazu.


Steffi Musigfuerdi 291121 cramarts 33
Steffi Musigfuerdi 291121 cramarts 33
«Man kann trotz psychischen Herausforderungen ein sinnvolles Leben führen und Betroffene dürfen die Zuversicht haben, dass nach jedem Tiefschlag auch wieder eine Besserung eintreten kann. Ich will Mut machen.»
Stephanie Wenger Songwriterin, Autorin, Aktivistin für Mentale Gesundheit, Begleiterin für Menschen in Krisen

Wie hast du diese erlebt?

Eigentlich immer als sehr hilfreich. Für mich sind eine psychiatrische Klinik oder ein Kriseninterventionszentrum auch heute noch Zufluchtsorte. Wenn ich merke, dass ich mich selbst nicht mehr schützen kann, suche ich dort Hilfe. Die verschiedenen Therapie- und Gesprächsangebote sind sehr effektiv und helfen mir, mich wieder zu stabilisieren.

Die Diagnose Borderline bekam ich erstmals im Jahre 2008. Es war für mich keine Überraschung. Damals war ich auch wieder längere Zeit auf der geschlossenen Abteilung, bekam aber dann die Chance, auf die Therapiestation zu gehen. Dort blieb ich sechs Monate. Ich besuchte Gesprächsgruppen und hatte Einzeltherapie, alles stets verbunden mit der Hoffnung, einen Ausweg aus dem Schmerz zu finden. Das ist mir ja dann auch gelungen. Mit Rückfällen muss ich jedoch jederzeit rechnen.

Lebst du alleine?

Nein, ich bin jetzt seit sechs Jahren mit meinem Partner zusammen und das ist für mich wie ein Wunder. Ich hatte früher viele Beziehungen, sie dauerten jeweils nicht lange und endeten fast immer dramatisch. In dieser Beziehung konnte ich mich erstmals tiefen Ängsten stellen und auch darüber sprechen. Ich habe das Glück, an meiner Seite einen Mann zu haben, der mich nicht auslacht oder verurteilt. Er kennt meine psychischen Herausforderungen und versucht, mich zu verstehen und damit klar zu kommen. Das ist für ihn sicher nicht einfach, doch wir haben es irgendwie geschafft.

Du hast dein Buch 2022 veröffentlicht. Wie kam es dazu?

Geschrieben habe ich schon immer gerne, Tagebuch, Lieder und Gedichte. Den Gedanken, einmal ein Buch zu schreiben, hatte ich auch schon einige Zeit. Von einer Kollegin bekam ich 2021 den Hinweis auf die Edition Unik. Dort können Menschen wie du und ich Erlebnisse, Erfahrungen oder auch erfundene Geschichten zu Papier bringen, und werden dabei fachkundig vom ersten Wort bis zum fertigen Buch unterstützt. Die Teilnehmenden treffen sich über 17 Wochen zu vier gemeinsamen Veranstaltungen im Berner Generationenhaus mit dem Ziel, nach dieser Zeit das eigene Buch in der Hand zu halten. Das war für mich genau das Richtige. Ich habe mir meine Tagebücher angeschaut, auch Arztberichte eingeholt und dann einfach angefangen zu schreiben.

Was war deine Motivation?

Einerseits wollte ich mit diesem Buch einen Abschluss finden mit schwierigen Jahren. Aus einer gewissen Distanz auf meine eigene Geschichte schauen, mit einem Blick von oben nochmals alles gedanklich durchleben und daraus gestärkt hervorgehen. Andrerseits hatte ich auch das Bedürfnis, meine Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen. Ich will der Welt zeigen: Eine psychische Erkrankung kann jeden treffen. Man ist nicht allein. Indem ich keine Details auslasse, will ich Betroffenen Mut machen und Angehörigen einen Einblick in die Gefühlswelt einer psychisch erkrankten Person gewähren. Man kann trotz psychischen Herausforderungen ein sinnvolles Leben führen und Betroffene dürfen die Zuversicht haben, dass nach jedem Tiefschlag auch wieder eine Besserung eintreten kann. Ich will Mut machen.

Hattest du keine Bedenken das Buch zu veröffentlichen?

Doch, natürlich. Ich hatte verschiedene Ängste, die ich überwinden und klären musste. Will ich mich in der Öffentlichkeit derart zu mir selbst bekennen, meine intimste Seite offenlegen. Will ich, dass andere so viel über mich erfahren? Was werden meine Arbeitskolleg:innen denken, meine Vorgesetzten, meine Eltern, meine Familie?

Du hast es trotzdem gewagt.

Ja, ich habe jedoch vorher mit meinen Eltern gesprochen, denn es war für mich wichtig, dass sie damit leben konnten. Ich liess 500 weitere Exemplare des Buches auf eigene Kosten drucken und machte dann eine offizielle Buchtaufe. Es kamen etwa 50 Leute, darunter auch mein Ex-Chef und meine ehemaligen Mitarbeiterinnen. Menschen, die ahnten, dass ich psychisch zu kämpfen hatte, aber keine Ahnung hatten vom Alkoholmissbrauch oder von der Schwere der Depressionen. Ich habe aus meinem Buch vorgelesen. Natürlich hat sich die Ehrlichkeit gegen aussen zu Beginn fremd angefühlt. Doch es ergaben sich so viele gute Gespräche. Ich habe gemerkt: wenn ich der Welt zeige, was ich erlebt habe, öffnen sich auch andere.

Wie ist deine berufliche Situation?

Ich war lange Jahre als Kauffrau tätig, auch in leitender Funktion. Das hat mich jedoch letztlich völlig überfordert. Deshalb habe ich jetzt den Schritt in die Selbständigkeit gewählt. Ich möchte mir meine Arbeit und meinen Alltag so einrichten, wie es mit meiner Energie halt möglich ist. U.a. biete ich heute Begleitung für Menschen an, die gerade eine psychische Krise durchleben. Ich nenne es Peerarbeit. Ich kann so meine Krankheits- und Therapieerfahrung nutzen. Zudem texte und singe ich persönliche Lieder für Menschen, die das bei mir bestellen. Es sind Mundart-Balladen, die ich zu meinem Gitarrenspiel an einer Hochzeit, Taufe, einem Geburtstag, zur Pensionierung, etc. vortrage. Die Ideen und Fantasien dazu sind grenzenlos. Ich habe schon über 40 Lieder geschrieben.

Wie geht es dir heute?

Es ist immer ein Auf und Ab. Damit muss ich einfach umgehen. Seit 2009 gehe ich zu derselben Psychologin, meistens jedoch nur noch sporadisch. Ich leide immer noch unter starken Stimmungsschwankungen. Ein Zaubermittel dagegen habe ich leider nicht. Wenn ich mich schlecht fühle, dann muss ich dies einfach aushalten und die Dinge so nehmen, wie sie sind. Es gibt Tage, an denen ich immer wieder in Tränen ausbreche und oft im Leben keinen Sinn sehe. Mittlerweile weiss ich aber aus Erfahrung, dass ich bisher auch aus jeder Depression wieder herausgekommen bin. Ich probiere vieles aus, versuche mich im positiven Denken, schaue mir meine Glaubenssätze an, usw. Und wenn ich die Kurve wieder kriege, dann arbeite ich einfach weiter an meinen Projekten. Auch hier gilt: Übung (und Erfahrung) macht die Meisterin.

Wie empfindest du den gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Erkrankungen?

Ich denke, dass in der Allgemeinbevölkerung das Verständnis für psychische Krankheiten und Beeinträchtigungen gewachsen ist. Es ist auch wichtig, wie jeder und jede selbst mit psychischen Problemen umgeht. Ich habe gute Erfahrungen gemacht, wenn ich ehrlich und offen über mein Befinden spreche. Damit gebe ich anderen Menschen die Chance, sich selber auch zu öffnen. Doch für viele gehören seelische Probleme immer noch in die Privatsphäre und nicht an den Arbeitsplatz. Ich denke, dort werden psychische Krankheiten oder Herausforderungen immer noch tabuisiert. Betroffene sprechen nicht über Belastungen, weil sie mit Nachteilen rechnen. Und ich glaube, das ist auch berechtigt.

Wenn du einen Wunsch frei hättest: was würdest du dir wünschen?

Ich wünsche mir, dass ich ein paar Leute auf ihrem Weg begleiten darf und ich ihnen helfen kann, dass sie ihre Leidenszeit einfacher durchstehen können. Dies durch die Erfahrungen, die ich selber gemacht habe, durch mein Wissen über psychische Herausforderungen. Mit meinem Buch habe ich das Schweigen gebrochen. Ich will über psychische Gesundheit reden. Ich will teilen, Mut und Hoffnung schenken. Begleiten. Leben, eben!

Steffi Musigfuerdi Flexi50

Stephanie Wenger: Songwriterin, Autorin, Aktivistin für Mentale Gesundheit, Begleiterin für Menschen in Krisen.

Persönliche Webseite
Buch «Mittelweg»
Musik von Stephanie Wenger (unbedingt hören!!)
Projekt Musig für Di :
«Äs persönlechs Lied zumne bsundrige Momänt?
Für Di oder ä Mönsch wod gärn hesch?
D Stephanie Wenger schribts.»

Suche Kontakt Schliessen