20. August 2021
Esther Wyler
Vom Vertrauen – Teil 1
Vertrauen in uns selbst und in andere Menschen erleichtert unseren Alltag. Dass Vertrauen in unserem Leben allgegenwärtig ist, merken wir allerdings oft erst dann, wenn es brüchig wird und wir anfangen, daran zu zweifeln. In unserer 2-teiligen Artikelserie sprechen wir mit dem Philosophen Martin Hartmann über die verschiedenen Aspekte von Vertrauen.
Herr Hartmann, Sie haben ein Buch über das Vertrauen geschrieben: «Vertrauen – Die unsichtbare Macht.» Was ist für Sie Vertrauen im weitesten Sinne?
Vertrauen ist zuallererst ein zwischenmenschliches Phänomen. Es zeigt sich in unserer Einstellung zu anderen Menschen. Wir machen unsere Erfahrungen mit Vertrauen in Beziehungen, zu Arbeitskollegen, Freundinnen, in der Liebe und der Familie. Dort kann es sich entfalten oder scheitern. Ich würde Vertrauen als eine Form akzeptierter Verletzlichkeit beschreiben. Wer anderen sein Vertrauen schenkt, macht sich verletzlich. Denn womöglich wird er verraten, belogen oder betrogen.
Was heisst das genau?
Vertrauen bezieht sich immer auf etwas. Wenn ich jemandem vertraue, überlasse ich ihm oder ihr etwas, was mir wichtig ist: ein Gut. Das können verschiedene Dinge sein: ein Geheimnis, mein Kind, meine körperliche Integrität, wenn wir über Sexualität reden oder meine Privatsphäre. Ich verzichte bewusst auf Kontrolle und Überwachung und muss darauf hoffen, dass der Vertrauensempfänger in meinem Sinne handelt. Dadurch gewinnt der andere einen Spielraum, den er potenziell auch zu meinem Schaden ausnutzen könnte. Manche sprechen in diesem Zusammenhang auch vom Risiko des Vertrauens. Je wichtiger das Gut, welches ich jemandem anvertraue, desto schwerer wiegt auch die Enttäuschung und Verletzung, wenn mein Vertrauen missbraucht wird. Vertrauen braucht deshalb auch Mut.
Wie weiss ich, ob jemand vertrauenswürdig ist?
Vertrauenswürdigkeit kann man nicht sehen. Ich muss versuchen, mein Gegenüber auf seine Vertrauenswürdigkeit hin einzuschätzen. Wenn wir über Vertrauen reden, spielen Gefühle stets eine wichtige Rolle. Es gibt jedoch auch gute Gründe, die mein Vertrauen rechtfertigen können: etwa, ob ich jemanden gut kenne und schon viel Erfahrung mit ihm oder ihr habe, ob jemand ehrlich ist und mich respektvoll behandelt, ob jemand seine Zusagen einhält etc. Ich kann auch im Umkehrschluss für mich feststellen, dass es keine guten Gründe gibt, jemandem nicht zu vertrauen. Je wichtiger das Gut ist, welches ich jemandem anvertraue, desto genauer nehme ich diese Einschätzung vor.
Letztlich mag ich die allgemeine Rede vom Vertrauen nicht. Es gibt nicht das eine Vertrauen. Instruktiver ist es, wenn wir die konkrete Beziehung anschauen, über die wir reden. Die Vertrauensbeziehung zu meiner Partnerin ist eine andere als die zu einem Politiker. Das sind unterschiedliche Dimensionen und es geht um unterschiedliche Güter. Aus philosophischer Sicht ist es immer wichtig, dass man sich klar macht, um welches Gut es in einem Vertrauensverhältnis geht, was auf dem Spiel steht und was ich riskiere.
Wie würden Sie den Wert des Vertrauens beschreiben und weshalb ist Vertrauen erstrebenswert?
Ich möchte zwei Punkte erwähnen. Zum einen erleichtert Vertrauen mein Leben. Ich kann Dinge tun, die mir sonst nicht möglich wären. Zum anderen hat für mich Vertrauen gerade in zwischenmenschlichen Beziehungen wie Freundschaften und der Liebe einen eigenen Wert. Das Vertrauen ist um seiner selbst willen wertvoll, unabhängig von den Gütern, die ich anderen Menschen anvertraue oder den Zielen, die ich in Vertrauensbeziehungen erreichen möchte. Ich nenne dies den Eigenwert des Vertrauens. In meinem Buch habe ich die These aufgestellt, dass immer weniger Menschen in dieser tiefen Dimension vertrauen. Wenn dieses Vertrauen missbraucht oder enttäuscht wird, dann sitzt der Schock umso tiefer. Dann heisst dies nicht nur «du hast mein Geheimnis verraten», sondern ich habe auch einen Freund verloren.