Es ist ein Zeichen von gesellschaftlicher Reife, dass wir einerseits eine Pluralität von Werten haben und andrerseits auch damit umgehen können. Wir haben kein festes Setting von Werten in dem Sinne, dass wir sagen würden, ganz oben steht zum Beispiel die Freiheit, dann kommt die Nachhaltigkeit, die Solidarität oder was immer Sie wollen. Wir müssen Werte immer wieder neu verhandeln und so, wie sich unsere Situation und Weltsicht verändern, verschieben sich auch die persönlichen und gesellschaftlichen Werte.
Neue Herausforderungen provozieren auch neue Wertesetzungen oder bestimmte bestehende Wertevorstellungen werden priorisiert, dann, wenn eine Dringlichkeit besteht. Die Auswirkungen der Klimakrise beispielsweise haben ökologische Interessen in den Vordergrund gerückt und ich habe den Eindruck, dass die Wichtigkeit dieses Anliegens oder der ökologischen Wertesetzung doch schon relativ weit durchgedrungen ist. Heutzutage kann es sich keine politische Partei mehr leisten, ohne ein grünes Programm aufzutreten. Dass das 21. Jahrhundert ökologisch kein unproblematisches sein wird, ist den meisten Menschen mittlerweile klar geworden.
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und angesichts der aktuellen Situation in der Ukraine ist im Moment oft von einer Zeitenwende die Rede. Sehen Sie heute auch eine Zeitenwende der Werte?
Ich habe Mühe mit grossen Worten. Seit es unsere Spezies gibt, haben wir immer in bewegten Zeiten gelebt. So oder so erleben wir im Moment einen ganz harten Bruch im Hinblick auf die Werte, die man fast schon vergessen glaubte, nämlich die Werte der militärischen Sicherheit und der militärischen Abschreckung. Lange Zeit herrschte zumindest in Europa in dieser Hinsicht Schönwetter-Rhetorik vor. Nun sind wir plötzlich damit konfrontiert, dass Machtpolitik erneut militärisch ausgetragen wird und sich letztlich gegen die freiheitlich-demokratische Werteordnung des Westens insgesamt richtet. Die Frage der militärischen Verteidigung und auch der militärischen Offensivkraft ist ganz offensichtlich doch nicht so obsolet, wie weite Kreise in der Vergangenheit gehofft haben. Viele Pazifisten fühlen sich hin und her gerissen zwischen einem konsequenten Pazifismus und den Bitten der Ukraine um militärische Hilfe gegen den Angriff aus Russland. Das ist für viele ein Dilemma. Mir selbst geht es auch so. Auch meine Bereitschaft, dem Staat als Bürger zu erlauben, mehr Geld für das Militär auszugeben, ist heute unter dem Eindruck des Geschehenen anders als noch vor einem halben Jahr. Dennoch würde ich nicht von einer Zeitenwende der Werte sprechen, sondern von einem Umbruch, der unsere Werteorientierung in Frage stellt. Sicherheitsinteressen und die Frage der Energieversorgung stehen plötzlich ganz oben und verdrängen zeitweilig die internationalen Klimaziele. Wir alle sind, was unsere Werte betrifft, in einem ständigen Reflexions- und Wandlungsprozess. Nichts ist in Stein gemeisselt.
Letzte Frage: Was sind für Sie persönlich wichtige Werte? Welch Werte sind für eine Demokratie wichtig?
Ein zentraler Wert ist die Freiheit, das gilt sowohl für ein demokratisches Staatswesen als auch für mich selbst als aufklärerisches und sich selbst aufklärendes Individuum. Freiheit verstehe ich als Mündigkeit, dass wir uns selbst zutrauen, die Dinge in die Hand zu nehmen. Freiheit ist nichts, was uns von höherer Stelle, von Gott oder von einer Staatsmacht, gewährt worden ist, sondern etwas, was uns zukommt. Mit der Freiheit verbunden ist jedoch auch die Pflicht, sie verantwortungsvoll zu nutzen. Freiheit kann nicht bedeuten, dass wir Raubbau an unserem Planeten betreiben, sondern Freiheit muss sich mit Nachhaltigkeit paaren, mit einer Art der Rücksichtnahme und des Respekts für die Angehörigen unserer eigenen Spezies, aber keineswegs nur für die, auch unsere Mitwelt, die Natur und die Tiere, haben einen Anspruch, von uns Menschen möglichst unbehelligt zu bleiben. Freiheit, Gerechtigkeit, den Gedanken der Nachhaltigkeit, Respekt und Rücksichtnahme, das sind alles Werte, die mir wichtig sind und die ich hochhalten möchte.
Wie wir gesehen haben, hat auch der Wert der Sicherheit durch den Angriff Russlands auf die Ukraine einen markanten Bedeutungszuwachs erfahren. Ich verstehe Sicherheit nicht nur in einem militärischen Sinne, sondern umfassender. Gemeinwesen müssen eine Partizipationskultur installieren, so dass alle Bewohner:innen ein Recht auf Beteiligung, Teilhabe, Mitwirkung und Einbeziehung haben und nicht «von oben» entschieden wird, was zu tun ist. Das setzt aber auch voraus, dass wir bereit sind, Verantwortung zu tragen und uns für unsere Anliegen einzusetzen. Mit der Mündigkeit, die mit der Freiheit verschmilzt, ist das Recht und gleichzeitig die Pflicht zur Partizipation verbunden. In der Schweiz haben wir dafür neben dem allgemeinen Stimm- und Wahlrecht die Möglichkeit, eine Initiative zu starten oder das Referendum gegen ein Gesetzesvorhaben zu ergreifen.
Für mich als Philosophen ist auch die Freiheit der Reflexion ein zentraler Wert, oder die Freiheit des Denkens, wenn Sie so wollen. Dies ist nicht nur etwas, was für professionelle Philosophen:innen wichtig ist, sondern für alle Menschen. Denken ist ein Teil unserer Wirklichkeit, durch die Art und Weise, wie wir über unsere Gesellschaft denken und reden, formen wir sie mit. Wir Menschen sind reflektierende Wesen und entsprechend ist auch die Achtung vor der abweichenden Meinung des anderen unabdingbar. Das ist manchmal hart, wenn wir davon überzeugt sind, die richtige Einsicht zu haben und der andere möglicherweise ein Brett vor dem Kopf hat, was derjenige natürlich auch von uns behaupten wird. Akzeptieren zu können, dass der andere anders ist und die Dinge auch mal im Raum stehen lassen, das scheint mir für ein nicht ständig polemisches Zusammenleben wesentlich zu sein.