24. Oktober 2021
Esther Wyler
Wie zerbrechlich ist unsere Gesellschaft?
Das Corona-Virus stellt uns alle auf eine harte Probe. Im Zuge der Pandemie hat sich die Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft verschärft. Menschen radikalisieren sich durch Verschwörungstheorien und verlieren den Bezug zur Realität verlieren. Der Sozialwissenschaftler Marko Kovic sieht in dieser Entwicklung eine Gefahr für unsere Demokratie und fordert, dass die sozialen Medien bei der Verbreitung von Hassreden und Desinformation durch Gesetze zur Verantwortung gezogen werden.
Marko, du schreibst auf deiner Webseite: «Ich mache mir Gedanken darüber, wie die Gesellschaft funktioniert und, wie sie funktionieren sollte.» Wenn du heute auf die Gesellschaft weltweit und in der Schweiz schaust: Was läuft gut und was nicht?
Zuallererst möchte ich betonen, dass ich kein Pessimist bin und alles nur schwarzsehe und Schlimmes befürchte. Es lohnt sich, die demokratischen Werte mit aller Kraft zu verteidigen. Es hat jedoch in den letzten Jahrzehnten gesellschaftliche Entwicklungen gegeben, die mich sehr nachdenklich machen.
Welche meinst du?
Beispielsweise die sozialen Ungleichheiten zwischen den Menschen. Das betrifft auch die Schweiz. In wenigen Händen kumuliert sich immer grösserer Reichtum und gleichzeitig fristet ein beachtlicher Teil der Bevölkerung ein Dasein am Rande des finanziellen Ruins. Die Armut oder Armutsgefährdung haben hierzulande spürbar zugenommen.[1] Diese Entwicklung hat sich durch die Corona-Pandemie nochmals verstärkt.[2] Wir müssen uns kollektiv Gedanken darüber machen, wie wir materielle Ungleichheit reduzieren können.
Als weiteres Problem sehe ich die Online-Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung. Hier sprechen wir von einem weltweiten Phänomen, welches zu einer zunehmenden Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft führt. Treiber dieser Entwicklung sind die Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter, YouTube, Instagram und wie sie alle heissen.
Du beschäftigst dich u.a. seit Jahren mit Verschwörungstheorien, von denen es sehr viele gibt und einige sich bis heute hartnäckig halten. Beispielsweise die skurrile These, dass die erste bemannte Mondlandung von 1969 nicht stattgefunden habe, sondern von der NASA und der US-amerikanischen Regierung in einem Filmstudie inszeniert und vorgetäuscht worden sei. Und ganz aktuell: Die verschiedenen Verschwörungstheorien zum Corona-Virus. Dazu meine Fragen: Was ist eine Verschwörungstheorie?
Eine Verschwörungstheorie soll eine Erklärung für einen bestimmten Zustand oder ein bestimmtes Ereignis liefern. Diese Erklärung beinhaltet ein paar Elemente. Sie behauptet erstens, dass die gängige Erklärung für ein bestimmtes Ereignis auf jeden Fall falsch ist, dass zweitens ein Individuum oder eine Gruppe hinter dieser Erklärung steckt, dass drittens die Leute, die die Verantwortung für ein Ereignis tragen, den Menschen schaden wollen und dass viertens diese Verantwortlichen irgendeinen Vorteil aus ihrem Tun ziehen.
Wer glaubt an solche Theorien und weshalb?
Wir alle sind empfänglich für Verschwörungstheorien. Das sage ich ganz dezidiert. Verschwörungstheoretiker sind nicht nur Esoteriker und Spinner. Menschen haben generell Mühe, Ereignisse zu verarbeiten, die gross und wichtig sind und auf die sie keine richtige Antwort finden. Das Unerwartete und Unvorhersehbare einem Zufall zuzuschreiben, widerspricht unserem Bauchgefühl. Es verlangt uns nach Kausalität. Wir wollen wissen, wer für einen Zustand oder ein Ereignis die Verantwortung trägt. Wenn uns eine Verschwörungstheorie eine vermeintliche Antwort auf unsere Fragen geben kann ist die Versuchung gross, an diese zu glauben. Selbst dann, wenn sie keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhält.
Gibt es Gründe, weshalb Menschen eher an eine Verschwörungstheorie glauben als andere?
Ja, die gibt es. Ich denke da beispielsweise an einen niedrigen sozioökonomischen Status. Solche Menschen sind nicht dumm, aber sie leben in schwierigen Umständen. Unterdurchschnittliche Einkommensverhältnisse gepaart mit fehlenden beruflichen Entwicklungschancen führen zu einem Gefühl des Ausgeschlossenseins. Es sind Menschen, die sich von den politischen Entscheidungsträgern und der Gesellschaft nicht wahrgenommen und eben auch nicht mitgenommen fühlen. Sie haben den Eindruck, dass irgendetwas im System falsch läuft. Und da haben sie ja auch recht. Armutsbetroffene verfügen über keine Lobby, die sich für ihre Anliegen einsetzt. Und deshalb sind Verschwörungstheorien oft der einzige Strohhalm, an dem sie sich festklammern können.
Welche Theorien sind gefährlich?
Grundsätzlich geht von allen Verschwörungstheorien eine gewisse Gefahr aus, weil sie irrationale Denkmuster beinhalten. Eine besondere Gefahr geht jedoch von Verschwörungserzählungen aus, die Prognosen über die Zukunft machen. Solche haben gerade im Corona-Kontext an Bedeutung zugenommen. Als Beispiel können wir die kürzlich von verschiedenen Verschwörungstheoretikern gemachte unseriöse Impfprognose anführen, dass es im September 2021 zu einem Massensterben von gegen COVID-19 geimpften Menschen kommen würde. Das ist bekanntlich nicht eingetroffen, hat jedoch viele Leute verängstigt, mobilisiert und radikalisiert.
Was machen Verschwörungsgläubige mit fehlgeschlagenen Prophezeiungen?
Das ist ein sehr spannender Punkt. Man würde ja denken, dass fehlgeschlagene Prophezeiungen die Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien zur Vernunft bringen und ihnen klarmachen würden, dass sie falschen Propheten nachgelaufen sind. Aber genau das passiert eben nicht. Den allermeisten fällt es schwer, sich den eigenen Irrtum einzugestehen. Dieses Phänomen können wir auch bei Sekten beobachten. Die Realität ist für die meisten Gläubigen kein Grund, vom Glauben abzufallen. So auch bei Verschwörungsgläubigen: Sie finden Mittel und Wege, die falsche Prognose zu rechtfertigen und die Tatsachen entsprechend anzupassen, damit sie auch weiterhin an eine bestimmte Theorie glauben können.
Eine Studie der Universität Basel zu «Verschwörungstheorien und Denkverzerrungen in der Covid-19-Pandemie», die im April 2021 vorgestellt wurde, hat festgestellt, dass in der deutschsprachigen Schweiz und in Deutschland 30% der Befragten zumindest teilweise an eine Verschwörungstheorie im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie glauben. Was sagt dies über unsere Gesellschaft und unser politisches System aus, wenn sich ein doch deutlicher Anteil der Schweizerinnen und Schweizer von der Wissenschaft nicht überzeugen lassen und eher daran glauben, dass «Big Pharma» das Coronavirus geschaffen hat, um von den Impfstoffen zu profitieren?
Auf den ersten Blick erscheinen 30 Prozent als nicht wirklich viel. Diesen Wert kennen wir auch aus früheren Studien zu anderen Verschwörungstheorien. Aber gerade im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sind ein Drittel sehr bedenklich. Covid-19 bedroht alle Menschen weltweit. Wer sich nicht impfen lässt und auch die Schutzmassnahmen ablehnt, gefährdet die Gesundheit vieler und stellt sich gegen das Wohl der gesamten Gesellschaft.
Corona-Leugner und Impfskeptiker sind laut geworden. Sie fühlen sich in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt und durch den Staat gegängelt. Von «Corona-Diktatur», «Impfdiktatur», etc. ist die Rede. Wie schätzt du diese Bewegung ein?
Sie ist heterogen mit einem Überhang im rechtskonservativen Lager. Wenn führende Personen aus der Schweizerischen Volkspartei öffentlich von einer Corona-Diktatur sprechen, hat dies natürlich eine gewisse Dynamik und bleibt nicht ohne Konsequenzen. Es glauben jedoch längst nicht alle Massnahmenkritiker bei Corona an eine Verschwörung. Es gibt solche, denen ist die Pandemie einfach egal und sie sagen: «Die Leute sollen sterben oder auch nicht, aber ich will meine Freiheit zurück.» Diese Aussage ist zwar moralisch absolut falsch, aber sie ist nicht Ausdruck eines Verschwörungsglaubens. Dennoch liegt auch bei solchen Argumenten das Verschwörungstheoretische nicht fern, indem Covid-19 oft als mediale Propaganda oder bewusste Panikmache abgetan wird. [3]
«Dem militanten Kern der Massnahmen-Kritiker diente der Sturm aufs Kapitol als Vorbild. Auch sie wollen ins Zentrum der Macht und dabei ist ihnen jedes Mittel Recht.»
Am 16. September kam es bei einer unbewilligten Demonstration von Massnahmenkritikern zu einer Eskalation auf dem Bundesplatz in Bern. Die Polizei und das Bundeshaus wurden mit Flaschen und Feuerwerkskörpern angegriffen. Es wurde versucht, die Zäune vor dem Bundeshaus aus der Verankerung zu reissen. Die Polizei antwortete mit Wasserwerfer, Gummischrot und Tränengas. Das erinnert an den Sturm aufs US-Kapitol in Washington im Januar dieses Jahres. Siehst du da gewisse Parallelen?
Ja, durchaus. Übrigens habe ich schon im Januar darauf hingewiesen, dass ein solcher Aufstand auch in der Schweiz passieren könnte, weil wir dieses aggressive Verschwörungspotential auch bei uns haben.[4] Bei beiden Ereignissen haben Radikale im Vorfeld in einschlägigen Social-Media- und Telegram-Gruppen konkrete Drohungen geäussert, Gewaltfantasien miteinander ausgetauscht und sich gegenseitig angeheizt. Dem militanten Kern der Massnahmen-Kritiker diente der Sturm aufs Kapitol als Vorbild. Auch sie wollen ins Zentrum der Macht und dabei ist ihnen jedes Mittel Recht.