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Zukunftsforscher im Interview: Von der Selbstentfaltung zur Selbsterhaltung

Der Soziologe Philipp Staab sagt, dass wir uns vom Fortschrittsdenken der Moderne verabschieden müssen. Die bisherige Vorstellung von Freiheit und Fortschritt, die darauf basiert, die Umwelt zu beherrschen, ist für ihn nicht mehr tragbar. Und: «Das Versprechen: Die Zukunft ist offen, und wir können sie beschreiben wie ein weisses Blatt. Das ist vorbei.»

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Herr Staab, wir leben in einer Zeit, in der sich Kriege, Krisen und Katastrophen häufen. Zuerst die Pandemie, dann der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, jetzt noch der Krieg im Nahen Osten. Dazu kommen sich beschleunigende Effekte des Klimawandels wie Hitzewellen, Dürren und Überflutungen. Viele Menschen sind von alldem zutiefst betroffen und verunsichert. Was macht dies mit den Menschen, welche Auswirkungen haben diese potenziellen und realen Bedrohungen auf die Gesellschaften, auf unsere Gesellschaft in Europa? Was wäre Ihre soziologische Deutung oder Analyse?

Zu Ende geht dieser Tage die Illusion eines im Prinzip unbeschränkten Fortschrittsprozesses. Lange haben wir geglaubt, die Natur liesse sich beherrschen und die Zukunft liesse sich beschreiben wie ein weisses Blatt Papier, Fortschritt sorge quasi automatisch für ein besseres Morgen, wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. Das zentrale Versprechen dieser Gesellschaft lautete, dass Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung, Emanzipation und Autonomie immer weiter wachsen können. Wir haben uns an den natürlichen Ressourcen bedient, als gäbe es kein Morgen. Klimawandel, Wachstumskrise, wachsende soziale Ungleichheit und steigende Armutsquoten, das alles hat diesen Optimismus erschüttert. Immer weniger Menschen gehen davon aus, dass sich die Lebensbedingungen verbessern werden, sondern davon, dass sie sich verschlechtern, selbst wenn man gegensteuert. Sie fühlen sich in ihrer Lebensführung bedroht, denn die Fähigkeit, ein eigenes selbstbestimmtes Leben aktiv zu führen stösst an Grenzen, wenn man nur noch damit befasst ist, sich selbst irgendwie im Spiel zu halten, sich irgendwie zu stabilisieren. Nicht zuletzt der Anstieg von Erschöpfungs- und Depressionssyndromen in spätmodernen Gesellschaften ist vielfach mit dieser Situation in Zusammenhang gebracht worden. Statt darum, die Zukunft zu erobern, geht es im Zeichen des Motivs der Selbsterhaltung heute immer stärker darum, die Gegenwart überhaupt zukunftsfähig zu machen. Fortschritt ist dann kein brauchbares Konzept mehr, weil der Begriff die Lebensrealität der Leute komplett verpasst.

Die Ideologie der Machbarkeit scheint Grenzen zu haben…

Ja, nehmen Sie die katastrophischen Auswüchse des Klimawandels, die wir in den letzten Jahren gesehen haben. Sie passieren nicht mehr fernab, sondern längst auch bei uns in Westeuropa. Hitze, Trockenheit, Dürren, Waldbrände, dann wieder Starkregen, Überflutungen mit Erdrutsche, das sind die Effekte der Erderwärmung. Die internationale Gemeinschaft hat sich 2015 in Paris darauf verständigt, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad, möglichst aber auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Das scheint zurzeit illusorisch, wie ein dieser Tage veröffentlichter Bericht der UNO klar macht. Falls die Länder den Ausstoss der klimaschädlichen Treibhausgase nicht stärker eindämmten, steuere die Welt in diesem Jahrhundert auf einen Temperaturanstieg von 2,5 bis 2,9 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu, so die Aussage. Die Folgen wären katastrophal und würden unsere Lebensweise fundamental verändern Und selbst dann, wenn wir es schaffen würden, unsere Treibhausgas⁠-Emissionen in Rekordzeit auf 0 zu senken, würden Klimakatastrophen trotzdem zunehmen, weil sich die Menge an CO2 in der Atmosphäre nur sehr langsam reduziert Der Klimawandel, das große Menetekel dieses Jahrhunderts, lässt sich nicht so einfach beenden oder gar «lösen». Es wird keine Rückkehr zur Welt vor dem Klimawandel geben, wir können nur versuchen, sein Tempo und Ausmass einzudämmen.

Hat da die Politik versagt?

Man kann die Schuld nicht einseitig dem Staat und der Politik zuschieben. Die Politik hat diese Systemprobleme im Konsens mit der Bevölkerung jahrzehntelang verschleppt. Wir kommen aus einer Gesellschaft, in der es Aufgabe der Politik war, Systemprobleme von der Bevölkerung fernzuhalten und deren Lebenswelt zu schützen. In der Corona-Pandemie haben wir eine Gesellschaft kennengelernt, in der das nicht mehr funktioniert. Die Gesundheitssysteme der meisten Länder waren überfordert, weil sie nicht für Extremfälle wie Pandemien ausgelegt sind. Und trotzdem hat dies in grossen Teilen der Bevölkerung Bestürzung ausgelöst: wie konnte das passieren? Es fehlte an allem, an qualifiziertem Personal, an Masken, Tests, Beatmungsgeräten, Verbrauchsmaterial. In Italien waren die Intensivstationen zeitweise so überlastet, dass das Spitalpersonal wie im Krieg entscheiden musste, wer eine Behandlung bekommt und wer sterben gelassen wurde. Die Pandemie hat der Gesellschaft ihre Verwundbarkeit in Friedenszeiten vor Augen geführt. Viele Leute haben das vor allem so verbucht, dass der Staat im Angesichts von Selbsterhaltungskrisen überfordert ist. Wenn man das ein bisschen breiter denkt, landen wir wieder beim Klimawandel. Der Klimawandel ist das ultimative Selbsterhaltungsrisiko auf planetarer Ebene.

Und was müsste die Politik besser machen?

Ich denke, sie müsste aufhören, notwendige Selbsterhaltungsmassnahmen als Fortschritt zu verkaufen. Als Beispiel sei die derzeitige Bundesregierung in Deutschland, die Ampel-Koalition, genannt. Sie startete im November 2021 unter dem Motto «Mehr Fortschritt wagen». Und was ist passiert? Zuerst zwang die Pandemie zur Anpassung, dann taten das Krieg und Energiekrise. Die Ampel ist rasant zu einer Regierung der Anpassung geworden, sie kommt aus dem Krisenreaktionsmodus, der kaum Spielräume für kreative Politik lässt, nicht heraus. Auf ihrem Programm steht die ökologische Modernisierung der Industrie und des Energiesystems. Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas, Ausbau der erneuerbaren Energien wie Wind, Wasser und Sonne. Aber dann sagen die Leute: Freunde, wenn ich 10'000 Euro mehr für eine Heizung ausgeben soll oder, wenn ich meinen alten Diesel oder Benziner durch ein teures Elektroauto ersetzen muss, in welcher Hinsicht ist das denn Fortschritt für mich? Vom Fortschrittsversprechen ist wenig übriggeblieben.

Und was sagen Sie?

Natürlich ist es gut und richtig, wenn wir auf die ökologische Transformation setzen, aber wir würden das alles nicht tun, wenn wir nicht müssten. Die Leute merken, wenn ihnen Anpassung als Fortschritt verkauft werden soll. Und zudem zeigen soziologische Umfragen, dass die meisten schon seit den 1980iger Jahren nicht mehr an Fortschritt glauben, weil dies ihren Grunderfahrungen auf verschiedenen Ebenen widerspricht. Wie muss man das deuten, wenn Leute gewaltsam auf die Klimakleber der letzten Generation losgehen? Wir stehen auf unseren Strassen doch ständig im Stau. Weshalb rasten die dann so aus? Ich denke: Die Leute wissen, dass Sie gewissermassen das falsche Leben leben. Gleichzeitig sind ihre Handlungsmöglichkeiten begrenzt und die Trägheit des Alltags wiegt schwer. Viele plagen Existenz- und Zukunftsängste – nicht zuletzt genau jene, von denen die Klimakleber adressiert werden. Was man eigentlich weiss und doch als Einzelne nicht ändern kann, das wird dann aggressiv abgewehrt. Ja, das ist sozusagen das Programm, die Schiene auf der wir sitzen.

Müsste man den Leuten reinen Wein einschenken?

Sicher, wir müssen dem Realitätsprinzip mehr Geltung verschaffen. Es fühlt sich nicht gut an, die ökologischen Folgen des eigenen Handelns permanent zu verdrängen. Man muss sich ehrlich machen, wie die Selbsterhaltungsprobleme, die wir haben, zu bearbeiten sind, und dann kommt man auf den Begriff der Anpassung. Anpassung als kollektives Projekt. Aber eines, das nicht nur erlitten wird, sondern den Menschen auch Räume der Selbstwirksamkeit bietet. Man muss das schaffen, ohne dass dies in eine autokratische Richtung abgleitet.

Aber Anpassung wird nicht ohne Verzicht und Verbote gehen?

Je radikaler sich Probleme der Selbsterhaltung zeigen, desto weniger werden Verzicht und Verbote als Gerechtigkeitsproblem empfunden. In einer Demokratie wird ja vieles verboten. Die Hygieneregeln während der Pandemie wurden auch weithin akzeptiert. Probleme gibt es aber dann, wenn viele enorme Anpassungsleistung erbringen (müssen) und dabei das Gefühl haben, dass es nicht fair und gerecht zugeht.

Wie zum Beispiel?

Etwa wenn profitable Tech- und Pharma-Unternehmen oder dubiose Masken-Händler durch die Corona-Pandemie enorme Gewinne einfahren konnten, während Millionen Menschen nicht wissen, wie sie Lebensmittel und Energie bezahlen sollen. Deshalb wird vielerorts über eine zusätzliche Steuer für Superreiche nachgedacht, was ich richtig finde. Denn die wachsende soziale Ungleichheit zerstört die Legitimität des politischen Systems. Wir müssen in verschiedenen Dimensionen das Notwendige tun, um die Leute von Selbsterhaltungsängsten zu entlasten. Dennoch darf man die Bevölkerung nicht in dem Glauben lassen, dass durch Entlastungsmassnahmen alles zu lösen ist. Das glauben die sowieso nicht. Und letztlich geht es nicht nur darum, was die Politik für das Individuum tun kann, es muss auch darum gehen, was das Individuum für die Gesellschaft tun kann.


HR 21256
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Der Klimawandel, das große Menetekel dieses Jahrhunderts, lässt sich nicht so einfach beenden oder gar «lösen».
Philipp Staab Professor für Soziologie der Zukunft der Arbeit

Wie empfänglich sehen sie die Gesellschaft, in Deutschland, der Schweiz, in Europa für diese Idee oder diese Notwendigkeit der Anpassung? Wo stehen wir da?

Zurzeit dominiert politisch und gesellschaftlich noch die Anpassungsverdrängung, während der Druck doch überall zu spüren ist. Man hofft, dass das schon irgendwie funktionieren wird mit dem grünen Wachstum, mit der Energietransformation und dass dann die Probleme, vor denen man steht, im Grunde genommen gelöst wären. Das wird aber nicht der Fall sein. Dennoch: Was ich auch sehe, ist, dass genau dann, wenn Krisen akut werden, eine hohe Bereitschaft des individuellen Engagements der Anpassung und eine Mobilisierungsfähigkeit in unseren Gesellschaften vorhanden ist. Die Leute wollen etwas tun, damit sie sich nicht hilflos fühlen. Weshalb kamen die Beschäftigten auf den Intensivstationen während den Hochzeiten der Pandemie überhaupt noch zur Arbeit? Das ist doch irgendwie erklärungsbedürftig. Die haben ja ihr Leben riskiert. Also fürs Geld taten die das sicher nicht. Sie taten es, weil ein kollektives Engagement für Selbsterhaltung für sich schon eine Quelle von Sinn ist und zudem eine eigene Qualität von Freiheit erfahrbar macht.

Welche Prognose für die Zukunft stellen Sie?

Ich bin sicher kein Apokalyptiker, aber wir müssen eine ganzheitlichere Sichtweise entwickeln, in der individuelle, gesellschaftliche und natürliche Zukunftsperspektiven nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Und wir werden sehr oft nicht mehr die Wahl haben, ob wir kollektiv handeln. Die Verhältnisse werden das erzwingen, weil die Gesellschaft akute Selbsterhaltungsrisiken nicht ignorieren kann. Dabei gibt es aber auch so etwas wie eine kollektive, soziale Freiheit zu gewinnen, weil wir uns gemeinsam anstrengen müssen, um die Anpassung überhaupt zu bewerkstelligen. Deshalb muss die Politik ein bürgerschaftliches Mobilisierungsprojekt anbieten, eine Möglichkeit der Partizipation, des Mitmachens des Einzelnen bei der grossen adaptiven Transformation, die das 21. Jahrhundert so oder so prägen wird. Grosse Teile der Bevölkerung sehnen sich durchaus nach einem politischen Projekt, das das Gemeinsame gegenüber den Einzelinteressen in den Vordergrund rückt, die Solidarität und die gegenseitige Hilfsbereitschaft stärkt. Wir können es nur gemeinsam machen, es geht nicht, wenn wir nicht daran glauben, dass wir das können.

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Philipp Staab, 1983 in Nürnberg geboren, ist Professor für Soziologie der Zukunft der Arbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Einstein Center Digital Future. Zu seinen Forschungsthemen gehören die Arbeitswelt, die Sozialstruktur oder die Techniksoziologie. Sein Buch «Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft» (Suhrkamp 2022) hat ein grosses Echo ausgelöst und wurde in Medien und Wissenschaft breit diskutiert.

Persönliche Website: https://philippstaab.de/

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