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Stimmen im Kopf

Chantal Ruchti leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS). «Die Leute wissen darüber zu wenig», sagt sie. Deshalb hat sie sich entschieden, in ihrem Blog «Be many» über das Thema zu schreiben in der Hoffnung, «Licht ins Dunkle» zu bringen und dabei einen Beitrag zur Entstigmatisierung dieser Erkrankung zu leisten. Immer mit einer Prise Humor erzählt sie uns im Interview, wie sie ihr Leben – trotz – dieser psychischen Herausforderung meistert.

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Chantal, du leidest an einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS). Wie würdest du diese Krankheit beschreiben?

Die Persönlichkeit eines Menschen spaltet sich auf. Es existieren verschiedene Persönlichkeitsanteile nebeneinander und wechseln einander ab. In der Regel wissen sie nichts voneinander, haben unterschiedliche Charaktere, Vorlieben, Fähigkeiten und Erinnerungen. Man spricht von dissoziativen Identitäten, weil sie sich von der Kern-Identität abspalten. Je nach Situation übernimmt ein bestimmter Persönlichkeitsanteil die Kontrolle über das Verhalten einer Person. Das Switschen, also das (hin und her) wechseln von einem Persönlichkeitszustand in einen anderen, passiert unwillkürlich und oft in Verbindung mit einem auslösenden Reiz (Trigger genannt). Es gibt bei mir momentan noch keine Oberkommandostelle, die das steuern würde.

Wie entsteht eine dissoziative Identitätsstörung?

Durch ein Trauma, eine Verletzung. Auslöser sind meist schwere, traumatische Erfahrungen in der Kindheit. Um Unerträgliches erträglich zu machen, werden diese Erlebnisse abgespalten. So können eigenständige Persönlichkeitsanteile entstehen. Auch ich habe über längere Zeit traumatische Erfahrungen gemacht. Ich möchte aber an dieser Stelle nicht darüber sprechen.

Wie fühlt es sich an, mit einer dissoziativen Identitätsstörung zu leben?

Wie in einer Wohngemeinschaft. Jeder Persönlichkeitsanteil hat in meinem Kopf eine eigene Kammer. Mittlerweile komme ich auf dreizehn Persönlichkeitsanteile, die ich mit Namen kenne: Chantal, Kiki, Tim, Lia, Lena, Svea, Toby, Emily, Bobby, Arnold, kleine Lena, Luigi und Mario. Wobei Chantal diejenige ist, die den Alltag managt.

Mit wem spreche ich jetzt?

Mit Chantal. Wenn ich als Chantal nicht das Kommando habe, kommt es sehr darauf an, wer den Lead übernommen hat. Ich habe Anteile, die sind sehr selbstdestruktiv und ich habe solche, die sehr ängstlich sind. Die jüngste Persönlichkeit ist 4 Jahre alt und stottert.

Gibt es Strategien zum Umgang mit deiner Krankheiten? Kannst du dies beeinflussen?

Nach vielen Jahren ist es so, dass ich als Chantal einen gewissen Einfluss habe. Ich kann zuhören und zusehen, wenn bestimmte Persönlichkeitsanteile etwas machen. Es gelingt aber nicht bei allen. Einige sind zu sehr abgespalten. Bei einer sehr emotionalen Situation übernimmt beispielsweise Svea die vollständige Kontrolle und Chantal ist weg. Chantal weiss nachher nicht, was Svea gemacht hat.

Wie hat man bei dir gemerkt, dass du eine dissoziative Identitätsstörung hast?

Mit 24 Jahren hatte ich einen Zusammenbruch und kam zum ersten Mal in die Psychiatrie. Ich war damals mitten in meinem Medizinstudium. In der Klinik diagnostizierten sie Borderline und Depression. Erst ein paar Jahre später meinte eine Psychologin, dass mein Stimmen hören und die bei mir festgestellten Gedächtnislücken nicht zu Borderline passen. Nach diversen Tests und anderen Untersuchungsmassnahmen hörte ich dann erstmals die Diagnose DIS. Ich wollte dies nicht wahrhaben und lehnte die Krankheit total ab.

Du hast also bis 24 mit dieser Diagnose gelebt. Hast du oder dein Umfeld denn nichts bemerkt?


Rückblickend kann ich sagen, dass ich schon immer Stimmen gehört habe, seit meinem vierten oder fünften Lebensjahr. Auch hatte ich grosse Gedächtnislücken, es gab Tage, an die ich mich einfach nicht erinnern konnte und nicht wusste, was ich in dieser Zeit gemacht hatte. Aber für mich als Kind und auch später als Jugendliche war das normal. Ich dachte mir nichts dabei.

Und dein Umfeld?

Meine Eltern hatten eher den Eindruck, dass ich sehr launisch war, manchmal wie ein anderer Mensch, aber sie haben das nicht in irgendeine Richtung interpretiert. Auch meine Selbstverletzungen konnte ich vor meinen Eltern irgendwie kaschieren. Und mit 20 bin ich dann ausgezogen und sie sahen mich sowieso nur noch in guten Phasen.

Wenn Menschen dir begegnen, wissen sie, mit wem sie es zu tun haben?

Diejenigen, die alle 13 Persönlichkeiten schon kennen, die wissen es. Wenn man mich jedoch das erste Mal sieht, kann man das nicht einordnen.


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Chantal ruchti test
«In Filmen oder Horrorthrillern werden Menschen, die unter dissoziativer Identitätsstörung leiden, oft als gefährliche Freaks oder Monster dargestellt.»
Chantal Ruchti u.a. Bloggerin zu Themen rund um die psychische Gesundheit

Wie bist du auf die Zahl 13 gekommen?

Die verschiedenen Persönlichkeitsanteile haben sich mit dem Tagebuchschreiben und während meiner Therapie allmählich herauskristallisiert. So konnte man ja u.a. auch feststellen, dass ich an einer DIS leide.

Wie lebst du deinen Alltag?

Ich lebe alleine und beziehe eine hundertprozentige Invalidenrente. Früher war ich verheiratet, aber die Beziehung ist auseinander gegangen. Von der IV habe ich die Erlaubnis, zu studieren. Ich absolviere eine Online-Studium in Psychologie. Ich kann nicht einfach nichts machen. An einer Präsenzuni könnte ich nicht studieren. Das würde nicht mehr gehen. Ein- bis zweimal pro Woche bekomme ich Besuch von der Psychiatriespitex und zweimal pro Woche habe ich Psychotherapie bei einem Spezialisten für diese Erkrankung. Und sonst bin ich eigentlich recht ausgebucht mit meinen Projekten, die ich laufend mache.

Du bist im Moment in einer Klinik. Weshalb?

Ich habe mich selber gefährdet und es kam zu einer Zwangseinweisung. Mittlerweile bin ich freiwillig hier. Es ist besser so. Unsere WG arbeitet momentan nicht wirklich gut zusammen. Es spalten sich viele wieder komplett ab, wir haben Erinnerungslücken, Flashbacks und ans Lernen für die Uni ist nicht zu denken. Ich bin gerade in einer Zwickmühle oder einem Loch oder was auch immer. Auf jeden Fall ist die Situation sehr frustrierend. Weil es mir so schlecht geht, probiert man nun seit 2 Wochen ein neues Medikament aus. Es wirkt ziemlich gut, aber eine Steigerung ist nur schwer möglich, weil es so stark ist. Und es hat Nebenwirkungen. Ich schlafe fast den ganzen Tag und in der Nacht kann ich dann trotzdem nur leicht schlafen.

Wie muss man sich dieses Stimmen hören vorstellen?

Schwierig. Die verschiedenen Persönlichkeitsanteile interagieren miteinander. Ich höre dann ihre Stimmen. Manchmal sprechen sie miteinander und dann wieder sprechen sie mich als Chantal direkt an. Es gibt harmlose Stimmen und solche, die negativ und gefährlich sind, weil sie mir Befehle geben, was ich jetzt machen soll. Wenn diese Stimmen zu stark sind, kann Chantal nicht widerstehen und das ist dann meistens der Zeitpunkt, wo ich eingewiesen werde.

Weshalb studierst du gerade Psychologie?

Ich habe Medizin studiert in der Absicht, Psychiaterin zu werden. Ich habe einfach nie damit gerechnet, dass ich selber psychisch krank werde. Und wenn ich mich für diese Richtung auch weiter interessiere, ist dies für mich jetzt nur in einem Fernstudium möglich. Wenn dies auch bei Medizin möglich wäre, hätte ich sehr wahrscheinlich weiterhin Medizin studiert. Das jetzt ist quasi mein Plan B. Aber, es gefällt mir sehr.

Du betreibst einen Blog, wo du offen über deine Krankheit sprichst. Was ist dein Anliegen?

Ich erhoffe mir, dass Menschen mit DIS weniger stigmatisiert und diskriminiert werden. Ich möchte auch dazu beitragen, dass diese Krankheit nicht nur in einem negativen Licht gesehen wird. In Filmen oder Horrorthrillern werden Menschen, die unter dissoziativer Identitätsstörung leiden, oft als gefährliche Freaks oder Monster dargestellt. Doch von uns geht keine spezielle Gefahr aus.

Was denkst du ist positiv an der DIS?

Manchmal gibt es auch lustige Momente. Ein Persönlichkeitsanteil von mir ist der Tim. Der ging eines Tages zum Coiffeur und plötzlich hatte ich als Chantal kurze Haare und konnte mich an nichts erinnern. Heute kann ich über solche Dinge lachen. Ich denke dann, es ist mir nichts passiert, die Haare wachsen wieder nach. Oder wenn ich wieder ein Schleckzeug in der Hand habe, welches ich als Chantal nie kaufen würde, dann weiss ich, ah, das war die Kleine, sie hat wieder mal die Kontrolle übernommen hat. Das finde ich irgendwie süss und eigentlich lustig. Und positiv ist auch, dass man mit einer dissoziativen Identitätsstörung nie alleine ist.

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