06. Januar 2023
Esther Wyler
Stimmen im Kopf
Chantal Ruchti leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS). «Die Leute wissen darüber zu wenig», sagt sie. Deshalb hat sie sich entschieden, in ihrem Blog «Be many» über das Thema zu schreiben in der Hoffnung, «Licht ins Dunkle» zu bringen und dabei einen Beitrag zur Entstigmatisierung dieser Erkrankung zu leisten. Immer mit einer Prise Humor erzählt sie uns im Interview, wie sie ihr Leben – trotz – dieser psychischen Herausforderung meistert.
Chantal, du leidest an einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS). Wie würdest du diese Krankheit beschreiben?
Die Persönlichkeit eines Menschen spaltet sich auf. Es existieren verschiedene Persönlichkeitsanteile nebeneinander und wechseln einander ab. In der Regel wissen sie nichts voneinander, haben unterschiedliche Charaktere, Vorlieben, Fähigkeiten und Erinnerungen. Man spricht von dissoziativen Identitäten, weil sie sich von der Kern-Identität abspalten. Je nach Situation übernimmt ein bestimmter Persönlichkeitsanteil die Kontrolle über das Verhalten einer Person. Das Switschen, also das (hin und her) wechseln von einem Persönlichkeitszustand in einen anderen, passiert unwillkürlich und oft in Verbindung mit einem auslösenden Reiz (Trigger genannt). Es gibt bei mir momentan noch keine Oberkommandostelle, die das steuern würde.
Wie entsteht eine dissoziative Identitätsstörung?
Durch ein Trauma, eine Verletzung. Auslöser sind meist schwere, traumatische Erfahrungen in der Kindheit. Um Unerträgliches erträglich zu machen, werden diese Erlebnisse abgespalten. So können eigenständige Persönlichkeitsanteile entstehen. Auch ich habe über längere Zeit traumatische Erfahrungen gemacht. Ich möchte aber an dieser Stelle nicht darüber sprechen.
Wie fühlt es sich an, mit einer dissoziativen Identitätsstörung zu leben?
Wie in einer Wohngemeinschaft. Jeder Persönlichkeitsanteil hat in meinem Kopf eine eigene Kammer. Mittlerweile komme ich auf dreizehn Persönlichkeitsanteile, die ich mit Namen kenne: Chantal, Kiki, Tim, Lia, Lena, Svea, Toby, Emily, Bobby, Arnold, kleine Lena, Luigi und Mario. Wobei Chantal diejenige ist, die den Alltag managt.
Mit wem spreche ich jetzt?
Mit Chantal. Wenn ich als Chantal nicht das Kommando habe, kommt es sehr darauf an, wer den Lead übernommen hat. Ich habe Anteile, die sind sehr selbstdestruktiv und ich habe solche, die sehr ängstlich sind. Die jüngste Persönlichkeit ist 4 Jahre alt und stottert.
Gibt es Strategien zum Umgang mit deiner Krankheiten? Kannst du dies beeinflussen?
Nach vielen Jahren ist es so, dass ich als Chantal einen gewissen Einfluss habe. Ich kann zuhören und zusehen, wenn bestimmte Persönlichkeitsanteile etwas machen. Es gelingt aber nicht bei allen. Einige sind zu sehr abgespalten. Bei einer sehr emotionalen Situation übernimmt beispielsweise Svea die vollständige Kontrolle und Chantal ist weg. Chantal weiss nachher nicht, was Svea gemacht hat.
Wie hat man bei dir gemerkt, dass du eine dissoziative Identitätsstörung hast?
Mit 24 Jahren hatte ich einen Zusammenbruch und kam zum ersten Mal in die Psychiatrie. Ich war damals mitten in meinem Medizinstudium. In der Klinik diagnostizierten sie Borderline und Depression. Erst ein paar Jahre später meinte eine Psychologin, dass mein Stimmen hören und die bei mir festgestellten Gedächtnislücken nicht zu Borderline passen. Nach diversen Tests und anderen Untersuchungsmassnahmen hörte ich dann erstmals die Diagnose DIS. Ich wollte dies nicht wahrhaben und lehnte die Krankheit total ab.
Du hast also bis 24 mit dieser Diagnose gelebt. Hast du oder dein Umfeld denn nichts bemerkt?
Rückblickend kann ich sagen, dass ich schon immer Stimmen gehört habe, seit meinem vierten oder fünften Lebensjahr. Auch hatte ich grosse Gedächtnislücken, es gab Tage, an die ich mich einfach nicht erinnern konnte und nicht wusste, was ich in dieser Zeit gemacht hatte. Aber für mich als Kind und auch später als Jugendliche war das normal. Ich dachte mir nichts dabei.
Und dein Umfeld?
Meine Eltern hatten eher den Eindruck, dass ich sehr launisch war, manchmal wie ein anderer Mensch, aber sie haben das nicht in irgendeine Richtung interpretiert. Auch meine Selbstverletzungen konnte ich vor meinen Eltern irgendwie kaschieren. Und mit 20 bin ich dann ausgezogen und sie sahen mich sowieso nur noch in guten Phasen.
Wenn Menschen dir begegnen, wissen sie, mit wem sie es zu tun haben?
Diejenigen, die alle 13 Persönlichkeiten schon kennen, die wissen es. Wenn man mich jedoch das erste Mal sieht, kann man das nicht einordnen.