15. August 2021
Esther Wyler
Über die Rettung der Arbeit
Wie werden wir in Zukunft arbeiten? Die Digitalisierung schürt bei vielen Menschen Angst und Unsicherheit. Wie sieht die Zukunft unserer Arbeitswelt aus? Mit der Philosophin und Ökonomin Lisa Herzog diskutieren wir über die Bedeutung und den Wert der Arbeit für uns Menschen und darüber, welche Rolle die Politik bei der Gestaltung der öffentlichen Arbeitswelt angesichts der anstehenden Veränderungen spielen sollte.
Frau Herzog, Sie haben ein Buch geschrieben: «Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf.» Weshalb ist für Sie das Thema Arbeit so wichtig?
Weil wir in einer Gesellschaft leben, in der Arbeit mit einer der wichtigsten Orte der sozialen Integration ist. Arbeit stellt uns in einen sozialen Zusammenhang: Wir begegnen durch sie anderen Menschen und sind in das Netz unserer arbeitsteiligen Systeme eingebunden. Arbeit gibt unserem Leben und Alltag eine Struktur. Zudem verändert sich unsere Arbeitswelt durch die digitale Transformation gerade sehr stark und deshalb ist das Thema politisch einfach überaus relevant.
Wenn Sie von Arbeit sprechen, meinen Sie vor allem die Erwerbsarbeit oder das Tätigsein an sich?
In meinem Buch konzentriere ich mich auf Lohnarbeit, weil ich in diesem Bereich viel Veränderungsbedarf sehe. Das will nicht heissen, dass ich die Familienarbeit, Pflegearbeit und Freiwilligenarbeit nicht auch unglaublich wichtig finde.
Weshalb benötigen wir einen Aufruf zur Rettung der Arbeit gerade jetzt?
Ich möchte auf drei Punkte hinweisen. Erstens hat uns die Corona-Pandemie nochmals eindrücklich vor Augen geführt, wie unglaublich abhängig wir von der Arbeit anderer Menschen sind, auch und gerade von solchen in sehr schlecht bezahlten Jobs. Zweitens hat sich unsere Arbeitswelt nach Jahrzehnten einer ausgeprägten Marktgläubigkeit doch an manchen Stellen sehr stark verändert. In diesem Weltbild zählt Arbeit nur als Input-Faktor in einen Produktionsprozess, der letztlich der Gewinnmaximierung dient. Doch dieses Denkmuster ist überholt und es stellt sich jetzt die Frage: Was kommt danach? Und als dritten Punkt sehe ich eben die digitale Transformation, die unser Verständnis von Arbeit grundlegend verändern wird. Wie sollen die neuen Technologien eingesetzt werden? Für wen und für welche Aufgaben und wer hat hier die Entscheidungsmacht? Hier muss die Politik Antworten finden.
Ihr Buch ist ein politischer Aufruf. Sie wenden sich an Bürgerinnen und Bürger, Politikerinnen und Politiker und rufen sie dazu auf, ihre Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft der Arbeit wahrzunehmen. Denken Sie, dass die Politik das schafft?
Ja, da habe ich so meine guten und schlechten Tage. Tatsache ist jedoch, dass die Politik wirklich Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten hat. Die nimmt sie bereits heute wahr, beispielsweise bei der Ausgestaltung von Patentrechten. Und in den heutigen digitalen Technologien stecken viel staatliche Finanzierung und Förderung. Das darf man nicht vergessen. Die Digitalisierung ist keine Naturgewalt, die über uns hereinbricht. Gefragt ist jetzt politischer Gestaltungswille. Letztlich liegt es an uns allen, dass wir unsere Vorstellungen von einer guten Arbeitswelt miteinander diskutieren und aktiv verwirklichen – das betrifft uns an der Wahlurne, aber auch im Alltag.
Die Debatte zur Digitalisierung wird oft sehr polarisierend geführt. Einerseits der positive Digitalisierungshype mit seinen Verheissungen einer technologiebedingten besseren Zukunft und andrerseits werden Katastrophenszenarien an die Wand gemalt. Wie könnte ein Dazwischen aussehen?
Wir müssen entscheiden, für welche Arten von Tätigkeiten Roboter und Algorithmen sinnvoll und geeignet sind und für welche Menschen. Bei körperlich sehr anstrengender oder gefährlicher Arbeit und bei routinehaften und monotonen Aufgaben können Roboter den Menschen sehr gut entlasten. Es ist vorstellbar, dass es eine produktive Arbeitsteilung zwischen Menschen und Maschinen geben kann. Aber überall dort, wo es auf Interaktion mit anderen, auf Empathie und Kreativität ankommt, werden auch künftig Menschen gebraucht. Das gilt insbesondere für das Gesundheitswesen sowie Lehre und Ausbildung, aber auch für das Management in vielen Bereichen. Eine positive Ausgestaltung digitaler Techniken wird auch damit verbunden sein, ob es gelingt, den Arbeitenden genug Mitsprachemöglichkeiten zu geben, damit sie sich im Prozess einbringen können. Man unterschätzt, wie viel implizites Wissen Mitarbeitende durch ihre Erfahrung erwerben. Herauszufinden, wie sich Erfahrungswissen und Technik zueinander verhalten und wie sie sich gegenseitig ergänzend einsetzen lassen, das ist enorm wichtig.
Welches Verständnis von Arbeit ist in unserer westlichen Gesellschaft vorherrschend?
Es gibt nicht nur ein Verständnis von Arbeit. Ich möchte zwei Sichtweisen erläutern: Eine grosse Bedeutung hat sicher das ökonomische Bild von Arbeit. Es behauptet, dass wir ausschliesslich arbeiten, um Geld zu verdienen, das uns erlaubt, zu konsumieren, um dann wiederum Sinn und Befriedigung aus dem Konsum zu ziehen. Dass Arbeit dem Einkommenserwerb dienen soll, ist auch nicht falsch. So sind unsere Gesellschaften heute organisiert und bis auf Weiteres wird es vermutlich so bleiben. Aber Geld ist sicher nicht das Einzige, was Menschen zur Arbeit motivieren kann. Sinn und Befriedigung kann auch in der Arbeit selbst liegen. In eine andere Richtung geht die künstlerisch romantische Auffassung von Arbeit. Man möchte sich in der Arbeit selbst verwirklichen und sein Ich nach aussen tragen können. Arbeit ist demnach eng mit der eigenen Identität verbunden. Wer sich für einen Beruf entscheidet, möchte sich darin finden können.
In Ihrem Buch weisen Sie immer wieder auf die soziale Dimension der Arbeit hin als etwas, was neben dem Geldverdienen und der Selbstverwirklichung eine entscheidende Rolle spielt. Können Sie das konkretisieren?
Arbeit verschafft gesellschaftliche Teilhabe, Zugehörigkeit und eine gewisse Autonomie. Eine Arbeitsstelle hat viel mit sozialer Anerkennung und Status zu tun. Menschen fühlen sich motiviert, wenn sie sich für die Gesellschaft nützlich machen können. Gerade die Arbeitswelt kann uns mit Menschen zusammenbringen, denen wir sonst nie begegnen würden, die eine andere Herkunft, andere Vorstellungen, andere Werte haben. Dieser Vielfalt zu begegnen ist für die Einzelnen bereichernd und für den sozialen Kitt einer Gesellschaft unerlässlich.