27. November 2025
Eine neue Perspektive für Jürg– dank Unterstützung, die Türen öffnet
Jürg Scheuner lebt seit 21 Jahren mit Multipler Sklerose. Bei der GEWA fand er einen angepassten Arbeitsplatz und neue Stabilität. Die vom Förderverein ermöglichte Ausbildung zum Peer eröffnet ihm heute die Möglichkeit, andere Betroffene professionell zu begleiten.
„Ohne diese Unterstützung wäre das nicht möglich gewesen“, sagt Jürg.
Seine Geschichte zeigt, wie gezielte Förderung neue Chancen schafft.
Wenn man Jürg begegnet, spürt man sofort seine Energie. Sein Lachen, sein Humor, seine Zielstrebigkeit. Er wirkt wie jemand, der das Leben fest im Griff hat – und genau das war lange Zeit sein Antrieb: Leistung, Stärke, Selbstständigkeit. Sport treiben, gebraucht werden, sich Ziele setzen. 9’000 Schritte am Tag, nicht weniger. Wenn der Schrittzähler am Abend nicht stimmt, geht er noch einmal hinaus, egal bei welchem Wetter. „Das ist einfach meine Art“, sagt er. „Ich pushe mich oft selbst. Mehr als gut wäre.“ Gleichzeitig lernt er heute, dass es Momente gibt, in denen er langsamer sein darf. Zur Erinnerung hängt nun ein Bild eines Faultiers an seinem Kühlschrank. Es steht für einen neuen Umgang mit sich selbst: weniger Druck, mehr Rücksicht.
Jürg wuchs im Emmental auf und fand früh seine Leidenschaft: die Gastronomie. Er absolvierte eine Lehre als Koch EFZ, später als Kellner EFZ und schloss zusätzlich die Ausbildung zum Barfachmann ab. Sein Traum war klar: ein eigenes Restaurant, ein Ort, an dem er Gastgeber sein, kochen und Menschen Freude bereiten kann. Mit 21 Jahren ging er nach Puerto Rico und lebte dort fünf Jahre lang diesen Traum. Zurück in der Schweiz arbeitete er als Küchenchef in einem renommierten Gasthof in Langnau, bildete Lernende aus und sparte konsequent für sein eigenes Lokal.
Doch während dieser beruflichen Höhephase begann etwas in seinem Körper zu arbeiten, das er nicht verstand. Schon mit 18 Jahren hatte er ein Kribbeln in den Oberschenkeln gespürt, doch Tabletten liessen die Symptome verschwinden. Niemand sprach damals von Multiple Sklerose. Rückblickend ist er dankbar dafür: „Hätte man mir damals gesagt, dass ich MS habe, wäre ich wohl nie nach Puerto Rico gegangen. Ich hätte meinen Traum begraben, bevor ich ihn leben hätte leben können.“
Mit 26 kehrten die Symptome zurück. Er wurde ins Inselspital eingewiesen, sicher im Glauben, bald wieder nach Hause zu können. Tag für Tag hoffte er darauf, und Tag für Tag wurde er enttäuscht. Als ihm schliesslich in einem kleinen Raum mit einem Stapel Broschüren voll mit Rollstuhlfahrern die Diagnose eröffnet wurde, war er völlig überfordert. „Ich konnte es gar nicht fassen. Ich habe sogar gelacht, so absurd war es.“ Er schloss sich auf der Toilette ein, einfach um einen Moment für sich ganz allein zu haben. Damals hätte er sich einen Peer gewünscht – jemand, der zuhört, der versteht, der Halt gibt.
Trotz der Diagnose arbeitete Jürg weiter, als wäre nichts geschehen. Er joggte nach der Arbeit mehrere Dörfer nach Hause, wollte stark bleiben, funktionieren, nicht als krank gelten. Doch Stück für Stück musste er feststellen, dass sein Körper Grenzen setzte. Die Belastbarkeit liess nach, das Sehvermögen verschlechterte sich, Bewegungsabläufe wurden unsicherer. Und irgendwann traf ihn die Erkenntnis, die tiefer schnitt als jede körperliche Einschränkung: Sein Traum vom eigenen Restaurant war nicht mehr realistisch: „Das musste ich erstmal emotional verarbeiten. Ich hatte darauf gespart.“ Es war ein Abschied, der nicht nur beruflich, sondern auch persönlich schmerzte.
Durch die IV erhielt er verschiedene Arbeitsmöglichkeiten – Beratungen in Hygienefragen, ein Einsatz in einem Jungunternehmen. Doch administrative Belastungen, Reisetätigkeit und die Abhängigkeit vom öffentlichen Verkehr wurden zunehmend zum Kraftakt. Mehrfach musste er erleben, dass Wege, die gut begonnen hatten, am Ende nicht weiterführten. Seine Eingliederungsfachperson bei der IV suchte unermüdlich nach Lösungen und brachte schliesslich einen Vorschlag, der alles veränderte: eine Bewerbung bei der GEWA.
Als Jürg 2015 in der GEWA Gastronomie in Schönbühl begann, fühlte sich zum ersten Mal seit Jahren etwas richtig an. „Es hat sofort funktioniert. Menschlich und inhaltlich.“ Er betreute eine externe Kantine, wechselte später ins Bistro zytlos der Bärner Brocki und kocht heute zusätzlich in der Produktionsküche QKB in Bümpliz. Die Arbeit gibt ihm Struktur, Freude und das Gefühl, gebraucht zu werden – etwas, das für sein Wohlbefinden zentral ist.
Gleichzeitig erlebt er täglich die konkreten Auswirkungen der Krankheit. Treppen werden zur Gefahr, weil sein Bein durch Streckspastiken plötzlich steif wird. „Es ist, als würde man mit Holzbeinen eine Treppe runtergehen.“ Mehrmals ist er gestürzt, einmal durch eine Glastür. Joggen, Skifahren, Eislaufen – alles Vergangenheit. Fatigue legt sich wie ein schwerer Mantel über manche Tage. Und selbst alltägliche Abläufe fordern ihn heraus. Besonders der Winter ist für ihn belastend: die Kälte, die Spastiken verstärkt, die vielen Kleidungsschichten, das zeitaufwendige Anziehen. „Ich muss mir im Winter einfach 15 Minuten mehr Zeit einrechnen, nur um aus dem Haus zu kommen. Das ermüdet mich sehr.“
Darum plant er seine Ferien bewusst im Winter – dort, wo Sommer ist. Wärme entspannt seinen Körper, Bewegung fällt leichter, er fühlt sich frei. Diese Reisen geben ihm Kraft und gehören zu seinen wichtigsten Energiequellen.
Ein weiterer zentraler Halt ist der Austausch mit anderen Betroffenen. Jürg leitet eine Selbsthilfegruppe in Bern, bisher die einzige in der Region. Der Austausch ist wertvoll, aber auch konfrontierend, denn er sieht unterschiedliche Krankheitsverläufe und Lebensrealitäten. Er weiss, wie sehr Menschen mit MS mit Verlusten und Trauer ringen. Und er kennt diesen Prozess aus eigener Erfahrung.
Als er die Ausbildung bei myPeer begann, öffnete sich ihm eine neue Perspektive. Er lernte Gesprächsführung, fragendes Begleiten, Coaching – Fertigkeiten, die ihn befähigen, andere Betroffene zu unterstützen. Besonders wertvoll ist für ihn die Erkenntnis, dass er selbst mit zunehmender körperlicher Einschränkung weiterhin wirksam sein kann: „Selbst, wenn ich in den Rollstuhl kommen würde, hätte ich mit der Ausbildung eine Perspektive.“
Für ihn wäre diese Ausbildung finanziell nicht möglich gewesen: „Es ist ein unglaubliches Geschenk, dass der GEWA Förderverein mir diese Ausbildung ermöglicht hat. Ohne diese Hilfe hätte ich sie nicht abschliessen können.“ Diese Unterstützung war viel mehr wert als der reine Geldbetrag. Sie bedeutete: «Du bist es wert. Wir glauben an dich» und sie ermöglicht ihm heute, das zu sein, was er sich damals so sehr gewünscht hätte: ein Peer, der zuhört, versteht und Orientierung gibt.
Wenn man Jürg fragt, was er in all den Jahren gelernt hat, wird seine Stimme ruhig und fest. „Wenn eine Türe sich schliesst, öffnet sich eine andere.“ Er hat gelernt, sich seinen Verlusten zu stellen, zu trauern, zu weinen. Das Loslassen befreit ihn und richtet den Blick wieder auf das, was möglich ist. Er sagt: „Ich bin ein sehr dankbarer Mensch geworden. Ich habe gelernt, mein Leben zu lieben.“
Jürgs Geschichte zeigt, wie verletzlich und gleichzeitig wie kraftvoll ein Mensch sein kann. Wie wichtig Unterstützung wird, wenn das Leben unerwartet die Richtung ändert. Und wie sehr ein Förderverein Türen öffnen kann, die sonst verschlossen, blieben – nachhaltig, konkret und lebensverändernd.
Ich möchte Perspektive schaffen