Meine eigene Welt
Auf einmal war da dieser Druck. Genügen meine Leistungen? Erfülle ich die Anforderungen? In der Wirtschaftsmittelschule hatte Mischa Rebora trotz dem diagnostizierten Autismus kaum Mühe. Das für den Abschluss benötigte Praktikum musste er abbrechen. Keine einfache Entscheidung für einen ehrgeizigen Menschen.
«Nonverbale Kommunikation fällt mir schwer. Es kommt oft vor, dass ich Mimik und Gestik falsch interpretiere. Ich nehme die Sprache sehr wörtlich, Ironie und Sarkasmus erkenne ich daher eher schwer. Mit Ablenkungen kann ich umgehen, aber neue Orte und viele Eindrücke können sehr ermüdend sein. Umso wichtiger ist es, dass ich meine Rückzugsmöglichkeiten habe, um die Reize zu verarbeiten. Ich höre oft Musik , und tauche so in meine eigene Welt ab.
Was ist schon «normal»?
Bis zur zweiten Klasse besuchte ich aufgrund meiner Zerebralparese – einer leichten motorischen Einschränkung, die sich beim Gehen äussert – eine Schule für beeinträchtigte Kinder. Danach ging ich in die Regelschule. Manchmal gaben mir die Lehrer:innen etwas mehr Zeit für Prüfungen oder druckten mir Blätter schon aus, damit ich nicht abschreiben musste. Meine Mitschüler:innen haben mich immer so genommen, wie ich bin. Ich war recht beliebt. Auch wenn ich immer wusste, dass ich anders bin als die anderen – aber denken das nicht alle?
Dennoch, die Abschlussprüfungen rückten näher, und ich entschied gemeinsam mit meinen Pflegeeltern, eine Abklärung auf Autismus zu machen. Die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS) hat mich zuerst beunruhigt, denn für mich waren mein Verhalten und meine Denkweise normal. Sie erklärte aber auch viele Verhaltensweisen und Erfahrungen aus meiner Kindheit. Die Diagnose nahm mir den Druck, so sein zu müssen wie alle anderen, und half mir, meine Bedürfnisse besser auszudrücken.
Auf einmal ging es nicht mehr
Die Sekundarschule schloss ich schliesslich im Sommer 2017 ab. Danach entschied ich mich für die Wirtschaftsmittelschule. Eine kaufmännische Ausbildung in Schulform: Geschichte, Mathematik, Wirtschaft, Finanzen und Informatik. Der Schulalltag gefiel mir gut. Alles war geregelt: wann die Pausen sind, wann, wo und von wem welche Fächer unterrichtet werden. Für den Abschluss Kaufmann EFZ musste ich allerdings noch ein einjähriges Praktikum absolvieren. Ich erhielt eine Stelle im Eidgenössischen Institut für Meteorologie.
Acht Monate arbeitete ich da, dann ging es nicht mehr. Waren es in der Schule vielleicht fünf Stunden am Tag, in denen ich produktiv sein musste, so waren es im Praktikum plötzlich achteinhalb Stunden. Die Pausen waren nicht mehr festgelegt, jeder Tag war anders. Während ich im Unterricht mal abschweifen konnte, forderte der Arbeitsalltag meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Leistungen musste ich nicht mehr nur für mich erbringen, sondern ich musste den Ansprüchen meiner Vorgesetzten, der Kund:innen und meiner Arbeitskolleg:innen genügen.
Aufgrund meiner schulischen Vorbildung hätte ich bereits auf dem Niveau eines Lernenden im dritten Lehrjahr sein sollen, dementsprechend gross waren die Anforderungen und der Druck. Im Verlauf der Monate spitzte sich die Lage zu, und meine Vorgesetzten kamen zum Schluss, dass eine Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses keinen Sinn mehr ergab. Sie lösten den Praktikumsvertrag auf. Ein schwerer Schlag. Es hätten nur noch vier Monate gefehlt. Der Umstand war mit meinem Ehrgeiz schwer zu vereinbaren. Und für die letzten vier Monate noch einen Betrieb zu finden, war nicht nur sehr kurzfristig vor den Prüfungen, sondern wurde durch Corona noch zusätzlich erschwert.
Strategien entwickeln
Es folgte eine Abklärung, ob eine kaufmännische Ausbildung für mich überhaupt sinnvoll ist. Ich erhielt den Zuspruch einer IV-Rente. Seit August 2021 mache ich nun bei der GEWA das kaufmännische Praktikum, das für den Abschluss meiner Ausbildung erforderlich ist. Vielleicht hätte ich mir von Anfang an besser überlegen sollen, was ich kann und wo ich stehe.
Mittlerweile kenne ich – auch dank meiner Coachs – Strategien, mit denen ich den Arbeitsalltag erfolgreich bestreiten kann. Ich plane feste Zeiten ein für gewisse Aufgaben und Pausen, und wenn es mir zu viel wird, höre ich Musik.»
Dieser Text erschien im Rahmen des gewagt Magazins (Ausgabe Nr. 43, 2022)